Dem Wikipedia-Artikel über Moby-Dick entnehme ich diesen Satz: „Noch in einer Geschichte der amerikanischen Literatur von 1909 findet sich auf 500 Seiten gerade einmal gut eine Seite über Melville; dort wird Moby Dick zwar als sein `Meisterwerk´ bezeichnet, zugleich aber kritisiert, dass es ein `unausgeglichenes Werk von übertriebener Länge´ sei, geschrieben in einem `teils gequälten Stil´“.
Damit ist über dieses Buch fast alles gesagt. Ich habe noch nie ein Werk mit so viel Widerwillen angefangen zu lesen. Selten musste ich mich so überwinden weiterzulesen. In weiten Teilen macht es keinen Spaß; nur jene Passagen, die wirklich eine Handlung haben, sind durchaus unterhaltsam. Sie machen jedoch nicht mal ein Drittel des Textes aus.
Ismael heuert auf dem Walfänger „Pequod“ an. An Bord ist ein buntes Abbild der Gesellschaft mit all ihren Minderheiten: Schwarze, Weiße, Indianer, Kannibalen. Sie stehen unter dem Kommando von Kapitän Ahab, einem einbeinigen Diktator, der – wie sich erst auf offener See herausstellt – nur ein Ziel verfolgt: den weißen Wal Moby Dick zu töten, der ihm einst das Bein abriß.
“Es ist wenig wahrscheinlich, dass diese Monomanie ihren Anfang in ihm just in dem Augenblick nahm, da sein Körper versehrt wurde. Damals hatte er, als er sich mit dem Messer in der Hand auf das Ungeheuer stürzte, lediglich einem jähen, leidenschaftlichen, fast körperlichen Haß die Zügel schießen lassen; und als er den Schlag empfing, der ihn zerriß, empfand er wohl nur den quälenden leiblichen Wundschmerz, sonst aber nichts. Als ihn dieses Treffen allerdings zur Rückkehr in die Heimat zwang und Ahab mit seiner Seelenpein monatelang, Tag für Tag und Woche für Woche, die Hängematte teilte, (…) da geschah es, daß sein zerrissener Leib und seine klaffende Seele ineinanderbluteten, miteinander verschmolzen und ihn irre werden ließen.“
Der Leser erfährt viel über den Wal. Mehr, als er jemals wissen wollte – und zwar auf dem wissenschaftlichen Stand von 1850. Der Wal ist demnach ein Fisch, ohne Gesicht, gemeingefährlich. Seitenlang, nein: kapitellang! erörtert Melville die Physiognomie des Tieres: seine Haut, sein Gerippe, seine Fluke, er lässt sich aus über die historischen Darstellungen des Wales in Kunst und Literatur. „Warum behelligst du uns eigentlich mit all diesen Überlegungen zu diesem Thema?“ fragt Ismael auf Seite 583 – und spricht damit dem Leser aus der Seele. Seine Antwort indes lässt nicht auf Einsicht hoffen: „Auf dieser Welt ist´s nicht so leicht, derart einfache Fragen zu klären. Meiner Erfahrung nach sind die einfachen Fragen immer die vertracktesten.“
Wenn ein Kapitel schon mit diesem Satz beginnt: „Des Wales mächtige Leibesfülle ist als Thema wie dazu geschaffen, sich lang und breit darüber auszulassen und es umfassend zu vertiefen.“, dann will man das Buch am liebsten an die Wand werfen.
Und so geht es weiter dahin, während man eigentlich nur wissen will, was an Bord der Pequod geschieht und ob nun endlich auch mal der weiße Wal auftaucht. Tut er, 50 Seiten vor dem Ende. Nachdem man sich 800 Seiten durchgebissen hat.
Allerdings muss man auch sagen: Jene Passagen, in denen tatsächlich mal ein Wal gejagt wird oder Kapitän Ahab die Mannschaft auf seine Mission einschwört, mit dem Versprechen einer Dublone besticht, diese Passagen sind wirklich lesenswert und anschaulich. Das Leben auf dem Schiff, das oft mehrere Jahre unterwegs ist auf den Weltmeeren, die Begegnungen mit anderen Schiffen, das Sterben eines Wales – das ist wirklich gut beschrieben und in diesen Abschnitten lernt man etwas und ist wirklich dabei. Alles andere aber ist, wie ich meinen Partner zitieren darf, „kein Roman, sondern ein veralteter wissenschaftlicher Bericht“.
Ich habe auch den Anhang gelesen und finde diese Einordnung von „Moby-Dick“ ausgesprochen hilfreich. Melville hat mit dem Buch in seiner Zeit „Gattungs- und Epochengrenzen“ überschritten. Es finden sich zahllose Bezüge zu anderen Werken – aus der griechischen Antike ebenso wie zur Bibel oder zu Werken von Shakespeare – die im Anhang in Fußnoten erläutert werden. Und gleichzeitig ist es ein Buch, dass sich kaum deuten lässt. So ein Werk gab es zuvor nicht.
Interessant finde ich auch die Umstände der Entstehung: Moby-Dick erschien im Abstand weniger Wochen in London und New York. Die beiden Ausgaben waren aber nicht identisch. In der Londoner Version waren einige Passagen – Anspielungen auf Religiöses z.B. – gestrichen. Weshalb wohl auch die Rezensionen dort freundlicher ausfielen.
In der amerikanischen Ausgabe fehlte jegliches Lektorat, nicht einmal Rechtschreibfehler wurden korrigiert. Melville war in Zeitdruck: Der Anfang des Buchs ging schon in Druck, als das Ende noch nicht einmal geschrieben war. Als „Entwurf eines Entwurfs“ bezeichnet Ismael selbst einmal seine Geschichte – und so wird es auch im Anhang festgehalten.
“Man kann darüber spekulieren, wie sich günstigere Arbeitsbedingungen, ein professionelles literarisches Umfeld oder ein verständnisvoller Lektor auf den Roman ausgewirkt hätten. Vielleicht aber wären gerade das mitreißend Ungestüme, die unbändige Phantasie und Sprachgewalt des jungen Melville in einem Maß zurechtgestutzt worden, das uns heute reuen müßte.“
Ich weiß nicht, ob ich diesen Worten des Herausgebers zustimmen will. Allerdings muss ich auch festhalten: Das Buch wird in Erinnerung bleiben. Wegen der zähen, theoretischen Passagen, aber auch wegen der eindrücklich geschilderten Handlung. Selten habe ich ein Buch so ungern gelesen – und war hinterher doch froh, es gelesen zu haben!