Herkunft

Sasa Stanicic

Seiten: 360
Verlag: Herkunft
Erscheinungsjahr: 2019
ISBN-Nummer: 978-3-630-87473-9

Was für ein Buch! Was für eine Sprache! Völlig zurecht mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet!

Bei Büchern, die von der Kritik so überschwänglich gefeiert werden und die Bestseller-Listen erklimmen, bin ich in der Regel skeptisch. Selten teile ich meinen Buchgeschmack mit dem der breiten Masse, zu häufig frage ich mich, warum ein Werk sich so gut verkauft. Ist es nur auf Platz 1, weil alle es kaufen, weil es auf Platz 1 ist? Ein Mechanismus, den ich wohl nie wirklich werde ergründen können.

„Herkunft“ habe ich aber mit einer gewissen Neugier und, ja, auch Gier begonnen – ich wollte nicht lange warten, es auch dann lesen, wenn gerade alle es lesen. Denis Scheck, der Literaturkritiker, ist daran nicht ganz unschuldig – seine Empfehlung ist mir mehr wert als die der Bestsellerlisten. Und wahrlich: Ich wurde nicht enttäuscht.

Der Titel ist Programm im Werk von Sasa Stanisic. Der in Jugoslawien geborene und seit seinem 14. Lebensjahr in Deutschland lebende Autor versucht die Bedeutung von „Herkunft“ zu ergründen. Aus Sicht desjenigen, dessen Heimatland nicht mehr existiert, ist diese Frage tiefgründiger als sie es wohl bei vielen Lesern ist.

„Ich war ein Kind des Vielvölkerstaates, Ertrag und Bekenntnis zweier einander zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion. Dazu muss man wissen: Auch jemand, dessen Vater Pole und Mutter Mazedonierin war, konnte sich zum Jugoslawen erklären, sofern ihm Selbstbestimmung und Blutgruppe mehr bedeuteten als Fremdbestimmung und Blut.“

Stanisic erzählt sein Leben. Seine Kindheit. Die Ankunft in Heidelberg nach der Flucht. Die Jugend an der ARAL-Tankstelle. Besuche bei der Großmutter, zurück in einem kriegsversehrten Land. Und er erzählt es in einer Sprache, die so einfach und merkwürdigerweise doch so selten ist: Die der Selbstverständlichkeit. Stanisic schreibt, als würde er es einem persönlich erzählen, beim Kaffee am Küchentisch.

„Wir tragen Häkchen im Namen. Jemand, der mich gern hatte, nannte das mal ´Schmuck`. Ich empfand sie in Deutschland eher als Hindernis. Sie stimmten Beamte und Vermieter skeptisch, und an den Grenzen dauerte die Passkontrolle länger als bei Petra vor und Ingo hinter mit. (…) Am Frankfurter Flughafen, vor einer Reise in die USA, (…) rief der Beamte, als sei ihm das Visum gerade erst aufgefallen: ´Du. Studierst ja. Was! Studierst Du denn?` Er schrie. Irgendwie schrie er jedes Wort, als sei es das wichtigste. ´Slawistik!` Gab ich in gleicher Lautstärke zurück. Die Antwort entlockte ihm ein anerkennendes Nicken. ´Ist bestimmt viel Mathe`, rief er. Blätterte weiter und erkundigte sich noch: `Was hast Du! In Tunesien! Gemacht!` ´All! Inclusive! Und mich! Dann vor allem! Über das Buffet! Aufgeregt!`

Besonders anrührend und einfühlsam schildert Sasa Stanisic die Demenz seiner Großmutter. „Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre“, schreibt er. So wie er das erzählt bekommt der Leser eine sehr gute Vorstellung davon, wie sich die Großmutter, die Demente fühlt. Die Verwirrung, das Nicht-Verstehen.

“Häkeldeckchen überall. Auf dem Radioempfänger, auf dem Nachtkasten, auf dem Sofatisch. Schön, schön. Lang ist es her, da hat sie auch gehäkelt. Irgendwann haben die Augen nicht mehr mitgemacht. Was, wenn der zurückkommt, dem die Wohnung gehört? Sie knöpft den obersten Knopf der Bluse zu. Was hat sie da überhaupt an? Sieht ihrem eigenen Nachthemd ähnlich.“

„Herkunft“, fast ein Fünf-Sterne Buch. Ein großartiges Buch, das am Ende mit einer kleinen Überraschung aufwartet, einer besonderen Form des Erzählens. Den halben Stern Abzug gibt es nur, weil es kein „ich-muss-unbedingt-weiterlesen“-Buch ist, kein Pageturner. Aber man entscheidet sich jedes Mal gerne dafür, weiterzulesen.

„…und das war der Augenblick, da Gavrilo mich fragte, woher ich käme. Also doch, Herkunft, wie immer, dachte ich und legte los: „Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft. So redete ich, und Gavrilo ließ mich ausreden. Er brach das Brot und reichte mir die Kante. Dann sagte er: ´Von hier. Du kommst von hier.`“

 

 

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