„Ich sah …“ So fängt Christoph Ransmayr jede seiner Erzählungen an. Jede startet an einen anderen Ort der Welt, doch es sind ausschließlich Orte, an denen der Autor selbst war, Szenen, die er selbst erlebt hat. Manches ist banal: Eine Sänger in einer Fernsehshow während des Eingeschneitseins in Murmansk. Vieles ist unspektakulär, wie der Besuch im Mausoleum Lenins. Doch es ist die besondere Sicht auf die Dinge, die fesselt und fasziniert. Die Wahrnehmung, die all diesen siebzig Erzählungen zugrunde liegt.
“Das Faultier glich einem in Zeitlupe kraulenden Schwimmer, als es auf den von der tropischen Feuchtigkeit geschwärzten Bodenbrettern der Veranda abwechselnd einen seiner langen Arme langsam, sehr langsam hob und langsam, sehr langsam wieder sinken ließ, um sich an seinen fingerlangen Krallen vorwärtszuziehen. Zwei Meter in der Minute, höchstens, vermochte es auf diese Weise kriechend zurückzulegen. (…) Zentimeter um Zentimeter kroch und schob sich das Tier stumm durch bernsteinfarbene Glasfiberscherben, Bruchstücke eines bemoosten Vordaches, durch das es soeben auf die Veranda gestürzt war. Das Tier schien unverletzt und versuchte mit der unvergleichlichen Langsamkeit seiner Art zu fliehen.“
Neben dem Blick für die kleinen, kostbaren Momente in Begegnungen und Alltäglichkeiten, deren Zeuge er wird, sind es vor allem die außergewöhnlichen Orte, an die Ransmayr den Lesenden entführt. Auf die Osterinseln. In den Südpazifik. Ins Universum. Unter Wasser.
“Ich sah eine Walkuh, die in etwa dreißig Meter Wassertiefe schlafend im Blau des Meeresgrundes lag. Sie hatte eine ihrer Brustflossen, die sich als weiße, meterlange Flügel vom Schwarz ihres Körpers abhoben, in einer schützenden Umarmung über ihr Kalb gelegt. Ich trieb an der Oberfläche eines von Passatwinden zerfurchten Meeres, beobachtete die Riesin und ihr Kind durch meine Taucherbrille und versuchte, meine Position in den kreuz und quer laufenden Wellen mit langsamen, vorsichtigen Flossenschläge zu halten. (…) Obwohl ich keinen Zweifel an der Sanftheit und Freundlichkeit der Buckelwale hegte, überfiel mich plötzlich die Starre eines Beutetiers, als dieser schwarze, von Seepocken und an Stahlnieten erinnernden Warzen übersäte Koloß mit einem Maul, so groß, daß ich darin wie in einem Strandkorb Platz gefunden hätte, auf mich zukam.“
Ich mag ja bekanntlich Bücher, bei denen man etwas lernt. „Atlas eines ängstlichen Mannes“ ist so ein Buch: denn es geht nicht nur um die Begegnungen mit Tieren. Beim Lesen erfährt man Erstaunliches über die Historie von Orten und über Eigenheiten der Bevölkerung. Und gleichzeitig reist man um die Erde, bekommt Fernweh, das im selben Moment gestillt wird. Eine ganz außergewöhnliche Art der Erzählung, die Lust macht auf Entdeckungen und den Sinn schärft für die vermeintlich kleinen Dinge um uns herum.