Mehr als wir sind

Jürgen Neffe

Seiten: 413
Verlag: C. Bertelsmann
Erscheinungsjahr: 2014
ISBN-Nummer: 978-3-570-10205-3

Im Glauben an das Versprechen ihrer Liebe erfüllt der Chemielaborant Janush Coppki einer Schlafgestörten ihren sehnlichsten Wunsch: Er entwickelt ein Elixier, das alle Müdigkeit vertreibt. Wer es nimmt, muss nie wieder Schafen. Und will es auch nicht mehr.

Als „fulminantes Gedankenspiel über unsere Zeit“ preist der Verlag das Buch von Jürgen Neffe an, der sich zuvor mit Biografien einen Namen gemacht hat. „Mehr als wir sind“ ist sein erster Roman – und wohl der letzte, den ich von ihm gelesen haben werde.

Das „Gedankenspiel“ war es, das mich zu diesem Buch greifen liess: Was passiert mit Menschen, die nicht mehr schlafen (müssen) ? Wie verändert sich die Gesellschaft, wie viel Dominanz entwickeln wirtschaftliche Aspekte bei der Frage, was die Menschen mit der neu gewonnenen (Frei?)Zeit machen? Geht es am Ende nur noch um Höher! , Schneller! , Weiter!?

Das Buch lässt diese Fragen leider unbeantwortet, bzw. handelt sie kurz vor Schluss auf einer Seite ab.

„Die ersten Engpässe zeigen sich in der Gastronomie. Bald können Wirtshäuser und Restaurants nur noch mithalten, wenn sie durchgehend geöffnet haben. Ihnen folgen öffentlicher Nah- und Fernverkehr, Lichtspiel-, Sprech- und Musiktheater, Sport- und Vergnügungsstätten, Geschäfte, Bibliotheken, dann Banken, Ämter, Behörden und am Ende auch Regierungen und Parlamente. Sie müssen Überstunden machen, um das gesellschaftliche Regelwerk den radikal veränderten Lebensumständen anzupassen.“

Die  radikal veränderten Lebensumstände“ werden nicht weiter geschildert.

Der Autor Jürgen Neffe konnte beim Schreiben dieses Buchs offenbar nicht aus seiner Biografen-Haut und hat eine zugegebenermaßen außergewöhnliche Erzählform gewählt: das Leben Coppkis geschildert aus der Sicht des Biografen. Dadurch entstehen zwei Erzählebenen: die des Chemielaboranten und die des Erzählers. Leider nimmt letztere mindestens genauso viel Raum ein wie die des eigentlichen Hauptdarstellers. Immer wieder vermischen sich die Ebenen, das „Gedankenspiel“ tritt in weiten Teilen des Buchs in den Hintergrund. Der Erzähler ist Teil einer Gruppe von Biografen, die sich in Rollenspielen ihren Charakteren annähern. Oft springt die Erzählung zwischen diesen Charakteren und denen aus dem Umfeld Coppkis, der eigentlichen Hauptfigur, hin und her – und zwar nicht in einzelnen Kapiteln, sondern mitten im Text. Gegen Ende verschmelzen die Ebenen, wohl um deutlich zu machen, wie sehr der Biograf eins wird mit seinem Charakter.

Wir treffen unsere Figuren in Leons Penthouse an. (…) Dort sitzen die fünf auf Polsterstühlen um einen runden Holztisch unter einer betagten Fabriklampe aus schwarzem Blech. Keiner nimmt Notiz von den Zaungästen. Nur Coppki, der für die Runde unsichtbar unter uns und gleichzeitig als Mensch aus Fleisch und Blut bei ihnen weilt, schielt gelegentlich heimlich herüber. „

Das mag Kritiker zu Lobeshymnen animieren, ich finde es unnötig. Nicht dass es verwirrend wäre, aber mich interessiert diese Biografengruppe schlicht nicht. Lieber hätte ich stringent die Geschichte Coppkis gelesen: Wie er das Mittel erfindet. Es seiner Freundin unter dem Siegel der Verschwiegenheit überlässt, alles akribisch beobachtet, notiert, weiterforscht. Wie das Mittel dann doch weiterverbreitet wird, sich eine Subkultur entwickelt. Mit der Möglichkeit des Wachbleibens verknüpft eine kleine Gruppe eine neue Lebensphilosophie, eine bessere Welt. Das Mittel soll mit dieser Ideologie verbreitet werden – und geht erwartungsgemäß doch seinen unkontrollierbaren Gang. Wer sich den neuen Möglichkeiten verweigert ist bald Außenseiter; gleichzeitig werden manche des Immerwachs überdrüssig. Doch auch dies sind Randerscheinungen des Buchs, verkörpert in nur einer Figur, oder erwähnt in einem Halbsatz: „Klammheimlich überdrüssig ihrer Unermüdlichkeit, schaut sie zu dem Mann neben sich, dem sie ihre Lage verdankt.“

Das Leben Coppkis wird aus einer fernen Zukunft erzählt, in der Immerwach der Normalzustand zu sein scheint. Auch hier wird Potential verschenkt; lediglich aus süffisant anmutenden Fußnoten geht das hervor, beispielsweise bei der Erklärung des Begriffs „Mobiltelefone“:

„Damals gebräuchliche, handliche Apparate zur ständigen Verfügbarkeit als Sender und Empfänger (…). Die Kleinrechner, wahre Stromfresser, mussten regelmäßig aufgeladen werden. Waren ihre Reserven aufgebraucht, gingen sie entzwei oder verloren, war ihr Besitzer, mitunter als lebensbedrohlich empfunden, von der Welt und allen Kontakten abgeschnitten.“

„Mehr als wir sind“ ist ein Buch, dass mich nicht fesseln konnte. Es zu lesen musste ich mich immer wieder auf’s Neue aufraffen, dabei hatte ich es voller Neugier begonnen. Das Feuilleton mag von Neffes erstem Roman begeistert gewesen sein (ich weiss es, ehrlich gesagt, nicht). Mir wäre eine stringente Erzählung eines Was-wäre-wenn-Romans mit science fictionhafter Anmutung viel lieber gewesen.

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