Entlang den Gräben

Navid Kermani

Seiten: 440
Verlag: C. H. Beck
Erscheinungsjahr: 2018
ISBN-Nummer: 978-3-406-74767-0

Navid Kermani war mir ein Begriff, seit er 2015 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen hat. Höchste Zeit, mal etwas von ihm zu lesen. „Entlang den Gräben“ ist nicht das schlechteste Buch dafür. Im Gegenteil: Es macht Lust auf mehr.

Als „Horizonterweiterung“ hat Literaturkritiker Denis Scheck „Entlang den Gräben“ bezeichnet – und ein treffenderes Wort fällt mir für dieses Buch nicht ein. Navid Kermani nimmt den Leser mit auf eine Reise von Schwerin über Litauen, die Ukraine, den Kaukasus, über Armenien und Aserbaidschan bis in den Iran. Es ist keine touristische Reise, es geht nicht um Sehenswürdigkeiten im klassischen Sinn. Es geht um Grenzen und deren Überwindung.

Kermani spricht dafür stets mit beiden Seiten, er überschreitet die Grenzen im geografischen Sinn, nie im übertragenen. Er bezieht nicht Stellung und lässt sich nicht vereinnahmen. Als „Berichterstatter“ bezeichnet er sich – und nichts anderes tut er. Er stellt Fragen, hört zu, bildet ab.

Beide Seiten zu Wort kommen zu lassen ist ein Grundsatz des seriösen Journalismus. So gesehen sollte jeder Artikel, jeder Online- oder TV-Beitrag „horizonterweiternd“ sein. In dieser ausführlichen Form, und das entlang von Konfliktlinien, von Fronten, ist Kermanis Buch für mich dennoch eine Ausnahmeerscheinung.

An der Waffenstillstandlinie zwischen Armenien und Aserbaidschan spricht Kermani mit einem armenischen Kommandanten. Er erzählt von der einstigen Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen, die für heutige Jugendliche nur noch ein Wort aus dem Geschichtsunterricht sei. Der Kommandant sieht aber einen großen Unterschied. Welcher das sei, fragt Kermani.

“´Deutsche und Franzosen sind beide Europäer. Wir aber, wir sind hier, genau hier an diesem Graben, am östlichen Rand Europas. Dort drüben`- er weist mit der Hand in Richtung der Silhouette aus Häusern und Bäumen, zwei oder vier Kilometer entfernt – ´dort drüben beginnt Asien.` ´Und das heißt?` ´Das heißt, daß wir es mit Schafen zu tun haben.` Ich versichere mich, ob ich die Übersetzung richtig verstanden habe. Sheep? Nicht ship oder so, oder irgendetwas anderes? ´Schafe sind das`, schließt der Kommandant selbst jedes Mißverständnis aus: ´Man sagt ihnen, sie sollen alle dorthin laufen, dann laufen sie alle dorthin. Das ist der Unterschied.`

Nicht nur schießt immer die andere Seite zuerst, vermutlich in allen Kriegen. Es sind grundsätzlich auch die anderen, die hassen, während man selbst nur ein ganz normales Leben führen will, Arbeit, Familie, Sicherheit.“

Kermani beschreibt aber nicht nur Situationen. Er bringt auch Atmosphären nahe. Er beschreibt Orte so, dass man sie bei Lesen fühlen kann.

“Im Garten des Schriftstellerhauses, das neben dem Museum die zweite grandiose Institution des literarischen Tiflis ist, betört mich wieder die Symbiose von vorrevolutionärem Glanz, sowjetischem Formalismus, orientalischer Melancholie und wenigen, ausgesuchten Tupfern westlichen oder global verstandenen Geschmacks, dazu der Hedonismus, der sich in der Speise- und der Weinkarte manifestiert. Was eigentlich ist an dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen so anziehend, die derzeit noch typisch für die Stadt ist? Eben das, was der Kern des europäischen Projektes, wie es sich im neunzehnten Jahrhundrt gegen den Nationalismus herausgebildet hat, womöglich sogar jedweder Zivilisation ist: Daß ein Ort seine Geschichte nicht leugnet, das Vorangegangene, das Gewachsene weder abreißt noch übermalt, sondern nebeneinander bestehen läßt und damit auch die Gegeneart als vergänglich relativiert. Nur Ideologien machen mit der Vergangenheit tabula rasa.“

Ich liebe die Sprache von Navid Kermani. So klar und überlegt, so bildhaft, so poetisch. Ich habe so viele Einmerker für zitier-würdige Stellen wie selten in einem Buch; es wäre zu viel, alle zu zitieren.

Die Reise endet in Isfahan, der Stadt seiner familiären Wurzeln. Hier bezieht Kermani klar Stellung, es wird persönlich, melancholisch. Er schildert die Veränderungen, die seit seiner Kindheit hier vonstatten gingen, örtlich und kulturell. Der Fluss ist ausgetrocknet, damit hat er am meisten zu kämpfen. Die Dörfer sind von der Stadt verschlungen, die alten Kuppeln gehen im Häusermeer unter. „Ein schmutziggrauer Moloch“ sei aus dem stillen, so grünen Isfahan geworden.

Eigentlich ist „Entlang den Gräben“ ein Fünf-Sterne-Buch. Und nur, weil ich die letzten hundert Seiten nur häppchenweise zu lesen geschafft habe, hat die Geschichte gelitten. Es liegt an mir, nicht am Buch. Denn das, was Kermani hier in nur einem Absatz zusammenfasst, ist absolut Fünf-Sterne-würdig:

„So viele Völker, die auftauchen, wo sie dem Schulatlas nach gar nicht hingehören, die wandern, vertrieben werden oder sich miteinander, nebeneinander arrangieren, selten zu Freunden werden und wenn, dann meistens erst, nachdem sie sich die Köpfe eingeschlagen haben, Griechen, Russen, Kosaken, Tataren, Deutsche, Juden, Armenier, Italiener, auch Polen und Dutzende weiterer Völker allein auf der Krim. Am Ende hat jedes Volk, sofern es nicht ausgelöscht worden ist, Ansprüche, Vorwürfe, Traditionen, Lieder oder schlicht ein Stück Boden von seinen Vorfahren geerbt, auf das andere ebenfalls vererbtes Anrecht haben, so daß die Saat für neue Konflikte angelegt ist. Aber genau daraus, aus nichts anderem als diesem Kuddelmuddel, das gerade auf der Krim häufig genug kriegerisch war, weltkriegerisch sogar, besteht eben Geschichte, aus Menschen, die sich Völkern zuordnen oder ihnen sogar gegen ihren Willen zugeordnet werden, allerdings nicht nur Geschichte, sondern auch Kultur, die sich stets in der Abgrenzung von anderen Kulturen herausbildet, besteht der Reichtum, den man Zivilisation nennt. Es gibt keine Monokulturen, nirgends. Es gibt nur friedliche und nicht friedliche Wege zusammenzuleben, sofern man den anderen nicht auszulöschen bereit ist.“

 

Ausgewählte Bücher: