Abendruh

Tess Gerritsen

Seiten: 412
Verlag: Limes Verlag
Erscheinungsjahr: 2012
ISBN-Nummer: 978-3-8090-2578-8

Auf Seite 120 dachte ich, den Mörder zu wissen. Was natürlich - nach knapp einem Viertel gelesenen Buchs - Punktabzug gegeben hätte, wäre er es gewesen. Nun gibt es Punktabzug, weil er es nicht ist - er hätte dem Buch gut getan.

„Abendruh“ ist der Name einer außergewöhnlichen Schule, eines Internats tief im Wald von Maine. Die Schüler, die hierher kommen bzw hierhin geschickt werden, sind keine gewöhnlichen Kinder. Sie alle verbindet das grausame und tragische Schicksal, Opfer und Zeugen von Gewaltverbrechen geworden zu sein. Oft sind es die eigenen Eltern, deren Tod sie miterleben mussten. Bei Teddy, Claire und Will hat das Schicksal gleich zwei Mal zugeschlagen: auch ihre Pflegeeltern wurden ermordet – sie selbst überlebten, schon wieder.

Dass sie also in „Abendruh“ gut und vor allem sicher aufgehoben sind, davon sind die Ermittler überzeugt, die in den „doppelten Schicksalsschlägen“ der Kinder einen Zusammenhang vermuten. Dass die Schule von einem merkwürdigen Club, dem Mephisto-Club, geleitet wird, stört die Ermittler dabei nur am Rande. Näher erläutert wird das nicht; vielleicht ist der Leser früherer Werke der Autorin klüger.

„Das sind Verschwörungstheoretiker. Die sehen Monster hinter jeder Ecke.“

“Vielleicht liegen sie diesmal gar nicht so falsch.“

„Jetzt komm mir bitte nicht auch noch mit diesen biblischen Prophezeiungen. Ausgerechnet du!“

Ich spreche nicht von Dämonen. Irgendetwas geht hier vor, was wir nicht erklären können; irgendetwas, was diese Kinder miteinander verbindet. Die Schulpsychologin will keine Details herausrücken und beruft sich auf ihre Schweigepflicht. Aber Lily Saul hat mir genug über Claire und Will erzählt, um mich davon zu überzeugen, dass hier ein Muster vorliegt. Und Abendruh ist vielleicht der einzige Ort, wo diese drei Kinder sicher sind.“

Dass „Abendruh“ offenbar Teil einer Ermittlerreihe von Tess Gerritsen ist, lassen mich die zahlreichen Bezüge auf früheres Geschehen erahnen. Entsprechend routiniert wirkt dieser Krimi heruntergeschrieben, und es erklärt auch die kruden Umwege, die die Autorin ihre Ermittler gehen lässt – irgendwie muss man der Geschichte wohl einen neuen Drall geben, damit die nicht wirkt, als wäre sie schon -zig Mal erzählt worden.

“Und deshalb geben wir nichts an die Öffentlichkeit, solange wir etwas nicht zweifelsfrei beweisen können. Wissen Sie, um manche Leute zu überzeugen, müsste schon E.T. höchstpersönlich auf dem Rasen des Weißen Hauses landen. Aber Neil und Brian waren der Meinung, dass sie genügend Beweise hatten. Das war übrigens auch mit das Letzte, was Neil mir vor seinem Tod gesagt hat.“

Jane starrte ihn an. „Dass er Beweise hätte?“

Bartusek nickte. „Für außerirdisches Leben.“

Das ist auf Seite 266 – und eine völlige Fehlleitung, die für den Fortgang der Geschichte absolut unnötig ist. Allerdings ist die Lösung des Falls mindestens genauso an den Haaren herbeigezogen. Auf den letzten 60 Seiten tauchen neue Charaktere auf, die CIA spielt plötzlich eine Rolle, es geht ums große Ganze und das Ende ist so verwirrend, dass der Leser kaum noch durchblickt. So manche Logik bleibt auf der Strecke – warum beispielsweise die Schulpsychologin einem LSD-Trip unterzogen wird, in dessen Verlauf sie vom Schuldach springt, bleibt unerklärt.

Dass „Abendruh“ von mir dennoch zwei Punkte bekommt, liegt an der durchaus guten Ausgangsidee: Dass jemand Familien nach dem Leben trachtet und dabei Kinder gleich mehrmals die einzig Überlebenden sind, ist ein interessanter Ansatz. Auch sind die betreffenden Kinder – neben den Ermittlern die Hauptpersonen des Buchs – interessante Charaktere. Wäre der Schulleiter von „Abendruh“ – wie von mir ab Seite 120 vermutet – der Mörder, wäre zumindest sein Motiv nachvollziehbar gewesen: als Verschwörungstheoretiker die Daseinsberechtigung seiner außergewöhnlichen Schule zu untermauern. Auch das wäre am Ende recht fad gewesen, aber immer noch besser als diese wirre Pseudo-Auflösung. Zum Glück liest sich dieses Buch recht schnell runter, sodass sich die Zeitvergeudung in Grenzen hält.

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