Es war nicht einfach, „Die Vegetarierin“ zu bekommen. Es ist das berühmteste Buch von Han Kang, das 2016 auch mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet wurde. Diese Auszeichnung triggert mich stärker als der Literaturnobelpreis, mit dessen Preisträgern ich häufig nicht so viel anfangen kann. Nach der Auszeichnung für Han Kang waren alle Werke von ihr vergriffen und man brauchte Geduld. Als endlich die Nachdrucke ausgeliefert waren, hab ich noch am gleichen Tag zu lesen begonnen, mit gemischten Gefühlen:
Zum einen sind Literaturnobelpreisträger, wie erwähnt, oft nicht mein Literatur-Geschmack. Zum anderen hatte eine Bekannte (eine absolute Viel-Leserin!) das Buch „nach der Hundeszene“ abgebrochen – es sei zu krass. Ich war also gewarnt und neugierig und rechnete mit dem Schlimmsten.
Yong-Hye wird von ihrem Mann, aus dessen Sicht der erste Teil des Buchs erzählt wird, als unscheinbar bezeichnet. Fast langweilig. Pflichtbewusst, ordentlich, genügsam und gefügig. Umso mehr erschrickt er, als Yong-Hye plötzlich kein Fleisch mehr essen will. Keine tierischen Produkte mehr in ihrem Essen, in dem ihres Mannes, überhaupt in der Wohnung. Ein Traum habe sie dazu animiert, sagt sie als einzige Begründung.
„`Was um Himmels Willen soll das alles? Willst du mir etwa weismachen, du hast das ganze Fleisch wegen eines lächerlichen Traumes weggeschmissen? Ist dir eigentlich klar, wie viel Geld du zum Fenster hinausgeworfen hast?´ Ich stand auf, ging zum Gefrierschrank und schaute hinein. Alles, was ich fand, war gemahlenes, geröstetes Getreide, Paprikapulver, eingefrorene Chilischoten und ein Beutel mit gehacktem Knoblauch. `Mach mir wenigstens ein Spiegelei! Ich bin heute Abend wirklich ausgehungert. Ich hatte nicht einmal Zeit, zu Mittag zu essen.´ `Die Eier habe ich auch weggeworfen.´ `Was?´ `Danach habe ich die Milch abbestellt.´ `Das kann doch nicht wahr sein! Also werde auch ich von nun an überhaupt keine tierischen Produkte mehr zu mir nehmen können?´ `Ich kann es nicht ertragen, sie im Kühlschrank liegen zu sehen.´“
Bei einem Familientreffen eskaliert die Situation; der Vater will Yong-Hye zwingen, ein Stück Fleisch zu essen. Für die endet der Vorfall im Krankenhaus.
Der zweite Teil des Buchs ist aus Sicht des Schwagers geschildert. Der sieht Yong-Hye mit völlig anderen Augen, seit er weiß, dass sie auf der Körperrückseite einen Mongolenfleck hat, ein bläulich-grünes Muttermal. Er ist Künstler und wird die Vorstellung, beinahe Besessenheit nicht los, Yong-Hye zu bemalen, mit Pflanzen, und daraus eine Video-Installation zu machen.
„Er horchte in sich hinein. In ihm war eine Saite zum Klingen gebracht worden, die er nicht kannte. Eine überbordende Freude, die aus der Spitze seines Pinsels kam, wie er sie während der ganzen vierzig Jahre seines Lebens noch nie gespürt hatte. Er wollte dieses Gefühl so lange wie möglich auskosten. Obwohl ihr Gesicht den Eindruck erweckte, sie schliefe, sagte ihm das Zittern, sobald er mit dem Pinsel über ihre Schenkel strich, dass sie sehr wohl wach und sehr empfindsam war. Für ihn war diese Frau, die das hier so unbefangen mitmachte, ein göttliches Wesen, weder Mensch noch Tier, eher irgendetwas zwischen Pflanze und Urwild.“
Auch hier kommt es zu einer Eskalation.
Der dritte Teil wird aus Sicht von Yong-Hyes Schwester geschildert, der Frau des Künstlers. Sie wird die einzige bleiben, die sich, wenngleich widerwillig, um ihre Schwester kümmert. Die identifiziert sich immer mehr mit einer Pflanze – was auch weitere Auswirkungen auf ihr Essverhalten hat …
„Die Vegetarierin“ ist ein interessantes Buch, insofern, dass ich es nahezu verschlungen habe: Ich wollte wissen, wie es weitergeht und hätte es am liebsten in einem Rutsch durchgelesen. Allein danach beurteilt müsste ich dem Buch fünf Sterne geben. Allerdings hinterlässt mich die Geschichte von Yong-Hye ratlos. Ich versteh nicht, was Han Kang uns sagen will. Welche (Gesellschafts-?)Kritik sie üben will. Und genau genommen ist die Geschichte einfach abgefahren, aber nicht schön. Man bleibt verstört zurück. (Allein schon nach der genauen Betrachtung des Titelbildes!) Vielleicht ist es das, was das Buch erreichen soll? Dann ist es gelungen.
Nachtrag: Im Lesekreis haben wir lang über „Die Vegetarierin“ diskutiert. Den meisten erging es so, dass sie mit der ersten Seite in den „Sog“ dieses Buches gerieten. Eine Mitlesende erläuterte, dass die Gesellschaft in Südkorea immer noch sehr patriarchalisch geprägt sei, von der Dominanz der Männer. Damit verstehe ich auch das Buch besser und die Gesellschaftskritik, die Han Kang übt. Die Bewertungen im Lesekreis reichten von 3 bis 5 Punkten, im Schnitt bekam es 3,5.