Five Little Indians

Michelle Good

Seiten: 292
Verlag: HarperCollins
Erscheinungsjahr: 2020
ISBN-Nummer: 978-1-4434-5918-1

Nein, ich werde nicht „großzügig“ oder „beliebig“, ich vergebe nach wie vor meine Fünf-Sterne-Bewertungen nicht inflationär. Es ist schieres Glück, dass ich in diesem Jahr bereits das zweite Buch gelesen habe, das mich absolut begeistert.

“Five Little Indians“ ist der Debutroman von Michelle Good und noch nicht auf deutsch erschienen. Die Autorin ist Angehörige der Cree-Indianer; von ihnen handelt auch dieses Buch. Oder besser gesagt: Davon, wie mit ihnen und ihren Kindern umgegangen wurde. Zwar sind die Charaktere des Werks fiktiv, der historische Hintergrund aber ist real – und zutiefst erschütternd.

In Kanada wurden bis in die 1990er Jahre hinein Kinder, die aus einer indigenen Familie stammten, in Internate gesteckt und damit über Jahre ihren Eltern entrissen. Grundlage dafür war ein Gesetz, der Indian Act von 1876. Mitte 2021 wurden in einem der Internate Spuren von mehr als 200 Kindergräbern gefunden, insgesamt sollen mehr als 4.000 Kinder gestorben sein. Ein Ethnozid, ein kultureller Völkermord. Die dunkle Seite der Geschichte Kanadas – vielen ist sie nicht bekannt. Hintergründe erläutert gut dieser Artikel des Deutschlandfunks.

Die „Five Little Indians“, um die es in diesem Buch geht, sind Lucy, Kenny, Howie, Maisie und Clara. Sie alle waren in einer der „Residental Schools“, die von der Kirche betrieben wurden. Sie alle haben dort Missbrauch erlebt, bekamen zu wenig zu essen, zu wenig Bildung, zu wenig Liebe, zu wenig Freiheit.

Michelle Good erzählt das Leben der fünf mit großen Zeitsprüngen. Dabei werden die eigentlichen Gräueltaten nicht geschildert. Sie werden deutlich durch die Folgen, die sie auf die Leben der „Five Little Indians“ haben.

“The first time he‘d seen the Mission, he was six years old, crammed into a boat with a dozen or so little kids, the steeple piercing the clouds as though it floated above them all, unhinged from the earth. Back than, he‘d sat there, numb, as the boat docked, overcome with a feeling he didn‘t unterstand. Now, he was familiar with that feeling. Being  totally helpless was his daily fare at the Mission. Being used to the feeling made it no easier.“ (Kenny)

“Frightening as it all was, I felt strangely calm. I knew my mother and I knew she would not stand for this. She would come and get me. So I did as I was told. I was careful to never be first or last, never to speak out, never to cry no matter what. At night I would imagine a calendar in my head, just like the one at home, and counted imaginary days, waiting for my mum.“ (Howie)

Doch kein Elternteil kann das Kind aus dieser „Mission“ herausholen; viele wissen nicht einmal wohin genau die Kinder gebracht wurden.

Die „Five Little Indians“ lassen – zumindest körperlich – das Internat hinter sich, können fliehen oder werden an ihrem 16. Geburtstag entlassen, in einen Bus gesetzt und mit 20 Dollar in der Tasche in die Stadt geschickt, nach Vancouver. Lucy hat Glück, dass sie die Adresse einer Mitschülerin hat, die im Jahr zuvor gehen durfte – wo hätte sie sonst hinsollen?

“`You okay to stay here by yourself?´

`Yeah, I‘ll be okay. Long as I can leave the window open.´

`Why do you need to leave the window open? It‘s pouring out there.´

`I don‘t know. It just makes me feel better sometimes. Been like that since I had to clean Father‘s rooms. It was so stuffy in there.´ She looked away from me.

I used to have to clean Father‘s rooms too. He stopped picking me when I started fighting. That‘s when he chose Lucy.“

Father, Brother, Sister – niemand hat für die Kinder Gutes im Sinn. Jene, die später dennoch ein Leben haben, verdanken dies ihrer eigenen Kraft, der Hilfe ihrer Mitschüler und der Freundschaft und Liebe zueinander. Michelle Good offenbart auf sensible Weise, wie jede und jeder einzelne mit den Folgen des Erlebten umgeht: Verdrängen, Weglaufen, die Suche nach Gerechtigkeit, die spirituelle Auseinandersetzung damit.

Ein heikles Thema, eine reale Begebenheit. Die Art, wie Michelle Good dies erzählt, zollt vom Respekt vor den Figuren – sie lässt ihnen quasi die Würde. Unbedingt lesenswert.

Ausgewählte Bücher: