„Du bist nicht so wie andre Mütter“

Angelika Schrobsdorff

Seiten: 590
Verlag: dtv
Erscheinungsjahr: 1992
ISBN-Nummer: 978-3-423-21657-9

Ich war ausgesprochen skeptisch bei diesem Buch. Ich fand den Titel merkwürdig, und die Aussicht, einen Roman zu lesen, in dem es auch um den Terror der Naziherrschaft geht, fand ich wenig erbaulich. Aber jedes Buch beginnt mit der ersten Zeile - und selten hat mich ein Buch von der ersten Zeile an so gefangen genommen wie dieses!!

Es ist eine wahre Geschichte, die Biografie von Else Kirschner, später Schrobsdorff – erzählt von ihrer Tochter (die selbst in dieser Erzählung nicht gut wegkommt). Der Erzählstil wechselt immer wieder von der Perspektive der Tochter zu der eines neutralen Außenstehenden. DIe Tochter hat als Autorin mit Weggefährten ihrer Mutter gesprochen und Tagebuchaufzeichnungen verwendet. Nicht nur das macht den Reiz dieses Buches aus. Es ist die Zeit, in der Else Kirschner lebte, es ist ihr außergewöhnlicher Charakter – gerade in dieser Zeit, und es ist der totale Kulissenwechsel zur Hälfte des Buchs.

Else Kirschner, geboren 1897 als Tochter streng jüdischer Eltern, weiss früh, sich aus den Konventionen herauszuwinden. Sie ist eine junge Frau, die leben und lieben will – mit Haut und Haaren. Sie heiratet gegen den Willen der Eltern einen Christen, bekommt früh das erste Kind. Drei werden es am Ende sein, von jedem Mann, den sie liebte, eines.

Es sind die goldenen 1920er Jahre in Berlin, die die erste Hälfte des Buches bestimmen.

“´Waren die Zwanzigerjahre wirklich so golden?`, habe ich später von Enie wissen wollen.

´Sie waren phantasisch`, hat sie gesagt. ´gar keine Frage. Der Aufbruch in eine neue, moderne, emanzipierte Zeit, die keine Chance hatte. Ein grandioser Totentanz! Was Berlin damals, sozusagen über Nacht, an Kunst- und Geistesriesen ausgespuckt hat, ist einfach unglaublich. Die Hälfte davon waren Juden. Naja, es ist uns gelungen, alles umzubringen: die Juden, die Kunst und den Geist.`“

Else stürzt sich in diese Jahre und nimmt alles mit, Kultur und Laster. Sie ist versiert auf beiden Gebieten. Es ist faszinierend, so authentisches über diese Zeit zu lesen, die so nie wieder kam. Sie endete mit der Machtergreifung Hitlers, und damit ist auch das schöne – und sicher auch oberflächliche – Leben Elses vorbei.

Nach und nach bekommt sie als Jüdin die Repressionen zu spüren, ist allerdings durch ihre zweite Ehe mit einem Christen vorerst geschützt. Sie fühlt sich sicher, und will vieles nicht wahrhaben. Sie verpasst den Zeitpunkt zur Flucht, die nun, als alle Freunde schon emigriert sind, nur noch durch die Scheinehe mit einem Bulgaren möglich wird.

„Was verband sie noch mit diesem Leuten, die ein gesichertes Leben führten und es für wichtig hielten, stundenlang über die Szene im dritten Akt eines Stückes zu diskutieren (…). Ja, das war auch ihr Ton gewesen, (…) das waren ihre Diskussionen und Gespräche  gewesen, in die sie sich mit Verve geworfen hatte. Jetzt fand sie das alles nur noch lächerlich, manchmal sogar empörend. Die Fragen, die sie interessierten, waren: Wie kommt man mit Angst und Schmerz zurecht, ohne daran kaputtzugehen? Wie lebt man alleine in einem fremden Land, unter fremden Menschen, deren Sprache, Sitten und Kultur man nicht kennt? Wie schützt man seine Kinder vor lebenslänglichen seelischen Schäden? Wie übersteht man den Abschied von seinen Eltern, wissend, dass man sie in der Hölle zurücklässt und mit großer Wahrscheinlichkeit nie mehr Wiedersehen wird?“

Das Leben in Bulgarien ist kein leichtes, aber zunächst ein sicheres. Bis auch dort die Nazis einmarschieren und die Alliierten die Stadt bombardieren. Gleichzeitig soll die Zeit im bulgarischen Hinterland, wohin Else mit ihren beiden Töchtern flieht, die glücklichste ihrer Tochter Angelika werden, der Autorin.

In all den Jahren verändert sich Else grundlegend, nicht nur psychisch. „Alles fällt auf einen zurück“, sagt sie oft; dies wird ihre Überzeugung, und in dieses Schicksal fügt sie sich. Das Leben, dass es in den Anfangsjahren so gut mit ihr gemeint hat und ihr so vieles „durchgehen“ ließ, scheint sich gegen sie gewendet zu haben – und sie ergibt sich.

Als der Krieg zu Ende ist und Else wieder zurück nach Deutschland kommt, nach München zunächst und dann wieder in ihre Heimatstadt Berlin, ist dort nichts mehr, wie es war.

“Je öfter ich nach München komme, desto entsetzter bin ich. Diese Zustände! Straßenbahnen fahren wegen der Stromersparnis nur morgens zwei Stunden und nachmittags bis acht Uhr abends, Autos gibt es nicht, man muss rennen, bis man nicht mehr kann, schlafen mal bei dem, mal bei jenem, niemand hat was zu essen, die Coupons reichen nicht hin uns nicht her. (…) Gestern fuhr ich mit Dr. Filier durch Berlin. (…) Es ist eine tote Stadt, die nur noch aus Ruinen und Fassaden besteht und wo man durch leere Fensterrahmen in das zerstörte Innere der Häuser sieht.“

Und die Zeit nach Kriegsende ist nicht die erhoffte neue Glückseligkeit, denn nun herrscht die Angst vor den Russen.

Der Leser ist in diesen drei Zeitabschnitten unmittelbar dabei; lernt Berlin ebenso kennen wie Bulgarien und die Menschen dort. Das Buch endet mit Briefen, die Else in ihren letzten Jahren geschrieben hat. Viel Einsicht, viele Fragen, viel Leid. Gerne hätte ich noch gewusst, was aus den einzelnen Protagonisten wurde, der Schwester der Autorin und auch ihr selbst.

„Du bist nicht so wie andre Mütter“ – am Ende dieses Buchs ist dieser Titel (Untertitel: Die Geschichte einer leidenschaftlichen Frau) vollkommen schlüssig. Das Leben einer Frau, die man nach dieser Lektüre nicht mehr vergisst.

 

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