Der Titel ist zweideutig. Die Nachtigall ist Staatsvogel in einigen Südstaaten der USA; wer sie also stört, stört vielleicht auch das stillschweigende Einverständnis zu Sklaverei und Rassismus, das dort vielerorts in den 1960er Jahren noch geherrscht haben mag.
In Maycomb, Alabama, wächst die kleine Scout mit ihrem älteren Bruder Jem heran, bei ihrem Vater Atticus Fink, einem Anwalt, der die beiden Kinder alleine großzieht. Scout darf frei und ungezwungen aufwachsen, jenseits der Konventionen, die sie lieber schüchtern und mädchenhaft sehen würden.
„´Mir wär‘s am liebsten, wenn du im Gesindehof auf Blechdosen schießen wolltest`, sagte Atticus eines Tages zu Jem, ´doch ich weiß ja, dass Du auf Vögel aus sein wirst. Nimm meinetwegen Blauhäher aufs Korn, soviel du willst, und sieh zu, ob du sie treffen kannst. Aber vergiß nicht, dass es Sünde ist, auf eine Nachtigall zu schießen.` Dies war das erste Mal, daß ich Atticus irgend etwas als Sünde bezeichnen hörte.“
Scout erzählt die Geschichte im Rückblick. Diese kindliche Perspektive ist herrlich, wunderbar naiv und unbedarft! Der Vater als Idealfigur, der Bruder als Freund und der unsichtbare Nachbar Boo als Objekt der Neugier.
Es ist eine glückliche Kindheit, die erst getrübt wird, als Atticus die Pflichtverteidigung für einen Schwarzen übernimmt – und die nicht mit der rechtlichen, sondern der moralischen Verpflichtung begründet. Dort, wo Sklaverei lange Zeit Gesellschaftsform war, gilt er fortan bei den meisten in Maycomb als gesellschaftlich nicht tragbar. Der Prozess geht aus wie erwartet, doch Atticus gelingt es, Zweifel zu säen und den wichtigsten Zeugen, Vater des vermeintlichen Opfers, als Lügner hinzustellen. Der schwört Rache.
“´Nein, Jem, ich glaube, es gibt nur eine Art von Menschen. Einfach Menschen.` (…) ´Das habe ich auch gedacht, als ich so alt war wie du`, sagte er schließlich. ´Aber wenn es nur eine Art von Menschen gibt, warum können sie dann nicht miteinander auskommen? Wenn sie alle gleich sind, warum haben sie dann nichts anderes im Kopf, als sich gegenseitig zu verabscheuen? Scout, so allmählich wird mir was klar. So allmählich wird mir klar, weshalb Boo Radley die ganze Zeit im Haus bleibt… Er tut‘s, weil er drinbleiben will.`“
Dieses Buch lebt von seiner Erzählart. Harper Lee gelingt es famos, die Perspektive der heranwachsenden Scout einzunehmen. Selbst jene Teile, in denen die Geschichte nur „dahinplätschert“ sind deshalb unterhaltsam und kurzweilig. „Wer die Nachtigall stört“ ist ein Buch über Rassismus, Kindheit und Anderssein – sehr lesenswert!
P.S. Ich habe dieses Buch rückwirkend noch von 4,5 auf fünf Sterne hochgesetzt. Es ist ein Buch, das in Erinnerung bleibt, wirklich sehr gut!!