The Every

Dave Eggers

Seiten: 577
Verlag: Vintage Books
Erscheinungsjahr: 2021
ISBN-Nummer: 978-0-593-31534-7

Das thematische Vorgänger-Buch von „The Every“, „The Circle“, hat bei mir einen herausgehobenen Stellenwert. Es sollte aus meiner Sicht Pflichtlektüre in Schulen sein, um für die Gefahren und Folgen großer Digitalkonzerne zu sensibilisieren. Entsprechend gespannt und vorfreudig war ich auf „The Every“, das als Quasi-Fortsetzung angekündigt war.

Das Social Media-Unternehmen The Circle ist fusioniert mit einem der größten Onlinehändler und bildet nun einen der mächtigsten Konzerne weltweit. Er dominiert nahezu alles: Ernährung, Kleidung, Kommunikation. Unter dem Mantel, die Nutzer, die Gesellschaft, die Umwelt „optimieren“ zu wollen kontrolliert er alles: Was die Menschen sagen, wie sie sich gegenüber anderen verhalten, wie sie sich fortbewegen, wie sie wohnen, sogar, wie sie streiten. Nämlich am besten gar nicht – sonst steht die Polizei vor der Tür. Die Politik agiert zurückhaltend bis gar nicht – zu groß ist der Einfluss von The Every.

Delaney Wells kann sich an ein Leben ohne all das erinnern, an eine Kindheit auf dem Land, die Eltern hatten einen kleinen Tante-Emma-Laden – bis auch der von The Every geschluckt wurde. Schon immer wehrt sie sich dagegen, von technischen Entwicklungen dominiert zu werden; an der Uni wurde sie durch eine ihrer Professorinnen darin bestärkt. Sie hasst The Every und beschließt, den Konzern von innen heraus zu zerstören.

Das ganze Ausmaß ihres Plans wird ihr erst bewusst, als sie tatsächlich eingestellt wird. Der Campus, das Firmengelände, ist eine eigene Welt; Delaney wird an ihrem ersten Tag per Bildschirm begrüßt, mit einem onboarding document:

“You are invited to bring your most Joyful Self to campus each day. Your personel Fullfillment is our goal. You are Seen Here. You are Valued here. Touching, including shaking of hands or Hugging, is disapproved (…). This is a plastic-free campus. This is a fragrance-free campus. This is an almond-free campus. Papier is Strongly discouraged. Smiling is encouraged but not mandatory. Empathy is mandatory. Vehicles that burn fossil fuels requires an Exemption. (…) This is a Sacred place. (…) This is a beef-free campus. This is a pork-free campus. Until further notice, this is a salmon-free campus.“

Als Korrektiv dient die bereits erwähnte Professorin, Agarwal, die Delaney regelmäßig schreibt. Als würde Eggers der Wucht seiner Schilderungen selbst nicht vertrauen, erklärt Agarwal in ihren Briefen den Blick von außen auf The Every, auf die Zusammenhänge.

“The world is undergoing a movement toward autoritarianism, Delaney, and this is about order. People think the world is out of control. They want someone to stop the changes. This aligns perfectly with what the Every is doing: feeling the urge to control, to reduce nuance, to categorize, and to assign numbers to anything inherently complex. To simplify. To tell us how it will be. An authoritarian promises these thinghs, too.“

Das ist aktuell. Das ist plakativ, umso mehr, dass Agarwal selbst am Ende dem Locken des Konzerns erliegt, was absehbar war. Wie in autoritären Staaten werden Kritiker von The Every mundtot gemacht, nur auf etwas „charmantere“ Art, durch ein nicht ausschlagbares Job-Angebot. Wie auch Delaneys bester Freund Wes, der wie sie lange abseits der digital-beobachteten Welt gelebt hat; auch er wird „assimiliert“.

Ich spoilere dies, weil man es sowieso von Anfang an erwartet und es eher nervt und langweilt, dass es tatsächlich geschieht. Stärker sind Eggers Sätze, die er meist Agarwal in den Mund legt, die sich eins zu eins auf manche Situation der Gegenwart übertragen lassen – oder ein dystopisches Licht darauf werfen, was kommen könnte.

“I didn‘t quite see the complicity coming. The motivation of the companies, yes, to consolidate and measure and profit from data, I saw that. But the every day human side, no. Our overwhelming preference to cede all decisions to machines, to replace nuance with numbers … It surpassed all my nightmares. Every day, we make another machine that removes more human agency. We don‘t trust ourselves or each other to make a single choice, a diagnosis, to assign a grade. The only decission we‘ll be left with is whether to live or to die. This is the changing of the species from a free animal to a kept pet.“

Ich bin gespalten über dieses Buch. Das Setting, die „Message“, bringt Eggers auch diesmal gut rüber: Die Allmacht der Großkonzerne, die Unbekümmertheit und Abgestumpftheit der Gesellschaft, deren Grenzen des Akzeptablen sich immer weiter verschieben. Welche Bedeutung haben Privatsphäre und Datenschutz künftig noch? Diese Passagen zu lesen war für mich quälend. Viel mehr als bei „The Circle“, das ja eigentlich erst die Anfänge dieser Entwicklung beschreibt – und dabei dem Leser selbst den Spiegel vorhält.

Gleichzeitig ist das Lesen von „The Every“ wahnsinnig zäh. Die ewigen Schilderungen der rotations durch die verschiedenen Abteilungen, die Delaney macht, die -zig-fache Darstellung der Apps, die entwickelt werden oder schon auf dem Markt sind, der fehlende Spannungsbogen… Es bleibt unklar, wohin die Geschichte überhaupt gehen soll, irgendwie ist alles eine einzige Schilderung dieses Konzerns, seines Gebarens, seiner Beschäftigten und der Folgen. Da ist – siehe oben – schon gut, und, wie ich finde, auch wichtig. Dass Delaney den Konzern zerstören will reicht aber als Spannungsbogen kaum aus. Hätte Eggers seien Message in eine spannendere konkrete Handlung verpackt, hätte ich das Buch lieber gelesen.

Normalerweise gebe ich einem Buch drei Sterne, wenn es gute Unterhaltung, aber nicht sehr anspruchsvoll war. Hier ist es umgekehrt: Drei Sterne, weil es zwar anspruchsvoll, aber nicht so richtig unterhaltsam war. In Erinnerung bleibt „The Every“ trotzdem. Der Konzern. Die Parallelen zur Echt-Welt. Und das wollte Dave Eggers wohl auch bezwecken.

Ausgewählte Bücher:

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Atlas eines ängstlichen Mannes


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John R.R. Tolkien