Fatih hat eine Idee. Beim Steinewerfen im Weinberg hat er sie, und seine Freunde sind sofort begeistert: „Alles an der Idee was das Beste, alles. Wir, drei langhaarige Sechzehnjährige, die in jeder Suppe eine Langhaarfrisur fanden, konnten rein gar nichts dran aussetzen.“ Die Idee war: Ein Proberaum für das Leben. „Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft? Wie bei Deichmann, nur nicht mit Schuhen, sondern mit dem Schicksal. Kostenpunkt: hundertdreißig Mark. Falls dir dann gefällt, was du siehst, kannst du es direkt einloggen (…).“
„Möchte die Witwe angesprochen werden…“ besteht aus einzelnen Geschichten, von denen einige aber miteinander verwoben sind. Geht es im ersten Kapitel um Fatih und Saša und Piero und Nico, ist im nächsten Kapitel Fatihs Mutter Dilek die Hauptperson. Später spielen andere Freunde von Saša eine Rolle, die sich samstags zum Doppelkopf treffen.
„Ist niemand zu spät, gestalten sich die Samstage gleich und unaufgeregt. Du triffst dich zum Doppelkopf ja auch nicht für den Nervenkitzel oder um andere Singles kennenzulernen. Zum Doppelkopf triffst du dich, weil du beim Doppelkopf nicht spürst, dass die Zeit existiert. Anders als auf der Arbeit oder nach dem Aufwachen oder beim Frisör. Beim Doppelkopf spürst du weder das harte Tuch, aus dem die Vergangenheit gewebt ist, noch hörst du die Sorgen der Zukunft deinen Namen rufen. Doppelkopf ist eine Dimension, in der niemand fragt `Was hast du noch vor?´ Die anstrengendste Frage, oder? Beim Doppelkopf hast du vor, noch eine Runde Doppelkopf zu spielen. Jede Runde ist anders, und so bist auch du jede Runde jemand anders. Du verwandelst dich. Bist aggressiv, dann zurückhaltend. Hast einen Partner, dann wieder keinen. Schauspiel des Lebens.“
Und es gibt Kapitel über Menschen, die zunächst nichts miteinander zu tun haben. Gisel etwa, die titelgebende Witwe, die ihren verstorbenen Hermann so vermisst.
„Mit Hermann war immer jemand da: Hermann. Mit Hermann brauchte sie nicht zaudern. Oder Hermann zauderte mit, das war auch schön. Jetzt zauderte sie permanent und allein. Zauder-Gisel. Zauderte, von sich aus jemanden anzusprechen, der auf regelmäßiger Basis mit ihr zaudern würde. Die Idee mit der Gießkanne gefiel ihr deswegen: Weil sie die Angesprochene wäre und den Zeitpunkt und Ort sogar selbst bestimmte: Friedhof, heute.“
Wovon dieses Buch handelt, ist nicht leicht zu sagen. Auf dem Klappentext ist es sehr treffend zusammengefasst: „Vom Zufall, von wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Entscheidungen, den Möglichkeiten, wie ein Leben verlaufen kann, und vom Grübeln an den Kreuzwegen unserer Biografie erzählt Saša Stanišić.“
Und wie er erzählt. Manche Sätze und Absätze lese ich mehrmals, weil sie so schön sind, so sprachgewandt, so bildgewaltig, so lustig:
„Lange Zeit nahm es Georg Horvath mit der Mülltrennung nicht so genau wie Regina. Regina hat mal den Doppelkekszylinder aus dem Papierkorb in seinem (!) Arbeitszimmer rausgefischt und dabei nicht etwa gesagt: `Der Planet geht unter, und du wirfst den in den Papierkorb´, und trotzdem wusste Georg, dass sie genau das dachte, während sie ihm den Doppelkekszylinder, ohne was zu sagen, sprich vielsagend, zeigte.“
Oder dieser Satz: „In seinem Kleiderschrank gibt es immer noch Hemden, die er während des Studiums getragen hat, also vor nun über fünfundzwanzig Kilo!“
Oder: „Mit Hermann war nicht alles leicht gewesen, aber das meiste. Und darauf kommt es im gemeinsamen Leben an, dass man es miteinander meistens leicht hat.“ So wahr. Noch nie drüber nachgedacht.
Oder: „Wald im Wind, Fenster im Regen, Gluckern eines Gewässers, Kuhschellen auf der Alm – das sind Geräusche mit Nebenwirkung von Stille.“
Hach – ich liebe dieses Buch! Unbedingt, unbedingt lesen!!!
„Einem geliebten Menschen böse sein sollte niemandem schwerfallen. Beide schweigen dann eine Weile, oder einer geht Holz hacken, der andere Zugvögel gucken, oder was man halt gerne macht, und schon hat man Kraft, um einander wieder wohlgesonnen zu sein. Und sich auch wieder zu streiten, wenn es sein muss, ja.“
Nachtrag: Ich liebte dieses Buch schon, bevor ich mich mit einer befreundeten Kollegin darüber unterhalten habe. Die hat mich aber noch auf einen Kniff aufmerksam gemacht, der mir entgangen war: Bei der Person, die den Proberaum nicht genutzt hat, verläuft das Leben doch anders. Was nur durch aufmerksames Lesen auf der letzten Seite deutlich wird. Ein Grund mehr, das Buch noch einmal zu lesen!!