Dr. Jekyll ist unter schlechten Einfluss geraten. „Erpressung“, vermuten zumindest seine Freunde, die sich erzählen, wie ein ungehobelter, ungestümer, ja: gewalttätiger Mann ein Kind umrennt. Zwar zahlt er eine Entschädigung – doch den Scheck dafür hat Dr. Jekyll unterzeichnet. Und nicht nur das: Sein ganzes Testament ist auf diese merkwürdige, düstere Gestalt ausgerichtet.
“Es war ein Mann namens Hyde. (…) Er ist nicht leicht zu beschreiben. An seiner äußeren Erscheinung stimmt etwas nicht – etwas Unangenehmes, etwas regelrecht Widerwärtiges hat er an sich. Noch nie ist mir jemand begegnet, der mir so zuwider war, und doch weiß ich kaum, warum. Irgendwo muss er missgebildet sein, jedenfalls vermittelt er einen starken Eindruck von Missbildung, obwohl ich nicht genau sagen könnte, woran das liegt. Er ist ein Mann, der ganz außergewöhnlich aussieht, und doch fällt mir absolut nichts ein, was anders an ihm wäre. Nein, Sir, ich kriege es nicht zu fassen, ich kann ihn nicht beschreiben. Und das nicht, weil ich ein schlechtes Gedächtnis hätte, denn ich versichere dir, jetzt und hier kann ich ihn vor mir sehen.“
Der Mann bleibt ein Rätsel. Ein Geist, umso mehr, als er spurlos verschwindet, nachdem er einen Mord begangen hat – es gibt Zeugen.
„Jetzt, da der schlechte Einfluss beseitigt war, fing für Dr. Jekyll ein neues Leben an. Er kam aus seiner Abschottung hervor, frischte die Beziehungen zu seinen Freunden auf, wurde wieder ihr Vertrauter Gast und Gastgeber. Und während er immer schon für seine Mildtätigkeit bekannt gewesen war, zeichnete ihn jetzt ebenso Frömmigkeit aus.“
Die Geschichte von Robert Louis Stevenson ist sprichwörtlich: Jemand wird von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde – jemand wandelt sich vom Guten ins Böse. Deshalb weiß man gemeinhin, was hinter diesen Figuren steckt – und könnte in Ermangelung einer „Pointe“ oder „Auflösung“ eher gelangweilt sein.
Doch ich fand die Erzählung auch beim zweiten Lesen (das erste Mal war Ende 2020, aber eine andere Übersetzung) ausgesprochen unterhaltsam, angenehm zu lesen, kurzweilig geschrieben. Mit Spannungsbogen, der tatsächlich einen Höhepunkt mit Auflösung parat hält – man empfindet es so, obwohl man meint, das Ende zu kennen. Vielleicht auch deswegen. Jedenfalls steht Stevensons zweite bekannte Veröffentlichung, „Die Schatzinsel“, nun ebenfalls auf meiner Lese-Liste!