Der aufrechte Mann

Davide Longo

Seiten: 478
Verlag: rororo
Erscheinungsjahr: 2012
ISBN-Nummer: 978 3 499 25531 1

„Homo homini lupus“, sagt am Ende des Buchs ein Mann zum anderen. „Der Mensch ist des Menschen Wolf.“ Kein Satz könnte diese Geschichte besser beschreiben.

Dieses Buch ist ein grausames. Das grausamste, das ich bislang gelesen habe, grausamer noch als „Die Straße“. Und es ist großartig. Davide Longo gelingt es, in einer wundervollen, philosophischen, erzählerischen Sprache das Schönste und das Schrecklichste zu schildern. Der Konstrast sorgt dafür, das beides potenziert wird.

Mir hat vor dem Lesen dieses Buchs gegraut. Thomas hat es als eines der wenigen mit fünf Sternen prämiert, sehr selten bei ihm. Ich war gewarnt, dass es harter Tobak würde – und habe lange Abstand gehalten. Zurecht – und zu unrecht. Auch ich gebe diesem Buch fünf Sterne. Aber selten fiel mir das so schwer. Wie kann man eine so grausame Erzählung so gut finden?

“Der aufrechte Mann“ beginnt harmlos, steigert sich ganz allmählich, führt den Leser, die Leserin heran an das, was kommt – von dem man nicht glaubt, dass es kommt. Fast die Hälfte des Buchs hatte ich mit der Folter eines Hundes gerechnet – und das als das Schlimmste erachtet. Beides war eine falsche Ahnung: Der Hund lebt, und es wäre nicht das Schlimmste gewesen.

„Einmal in der Woche begab sich Leonardo ins Dorf und kaufte Brot, ein paar Konserven, Pasta und Tomatensauce. Außer Milch und Käse waren das die einzigen Dinge, die noch zu bekommen waren, während Fleisch sehr teuer geworden war und Fisch nicht einmal mehr tiefgefroren aufzutreiben war. Der Lebensmittelladen von Norina und die Bar waren als einzige geöffnet. Der Apotheker hatte die Medikamente in seine Wohnung geschafft und empfing zwischen zehn und zwölf. Der Besitzer des Schuhgeschäfts und die Friseuse hielten es ebenso. In den Straßen des Dorfs lag ein angenehmer Duft nach verbranntem Holz.“

Italien in einer Zukunft, die nicht näher definiert wird. An einer Stelle heißt es, das Internet war mit als erstes ausgefallen; Handys, moderne Kommunikationsmittel spielen hier keine Rolle. Was geschehen ist bleibt offen – es ist nicht, wie bei „Die Straße“, ein Atomkrieg. Und doch herrscht Anarchie.

„Als Don Pedro seine Predigt beendet hatte, erinnerte er daran, dass man sich in diesen schwierigen Zeiten um die Kirche als einen Ort der physischen und spirituellen Zuflucht scharen sollte, ihr beistehen und Beistand von ihr empfangen. Bald wären auch in den letzten Uhren die Batterien aufgebraucht, und ohne den Kirchturm würden alle in ein zeitliches Ungefähr stürzen, eingeteilt nur in Tag und Nacht, wie bei wilden Tieren und Wesen ohne Verstand. Die meisten ahnten, dass diese Worte auf irgendetwas anspielten, aber keiner hatte Lust zu verstehen, worauf.“

Das zeitliche Ungefähr wird das geringste Problem der Menschen sein, die überleben. 90 Seiten später schreibt Leonardo in sein Tagebuch: „Die Kirchtumuhr im Ort schlägt nicht mehr, und wir haben uns daran gewöhnt, uns nach dem Sonnenstand zu richten. Im Übrigen ist es ohnehin nicht mehr wichtig, wie spät es ist, sobald die Sonne untergeht: Dann brauchen wir uns nur noch einen Platz zu suchen, wo wir uns zurückziehen, Feuer machen und schlafen können.“

Und – das schreibt er nicht: sicher sind. Leonardo, seine Tochter Lucia, deren Bruder Alberto, der stumme Sebastiano und Bauschan, der Hund ziehen doch los, um zu versuchen das Land zu verlassen. So wie alle anderen es auch getan haben. Das geht nicht gut. Und doch wird alles gut.

Phasenweise habe ich nur weitergelesen, damit dieses Buch schnell zu Ende ist. Aber das Durchhalten wird belohnt, die Geschichte endet wie kühlendes Balsam, das auf die Stelle aufgetragen wird, an der die Haut fehlt. Es brennt, es schmerzt, es kühlt, es wird besser.

“Bevor er ins Haus trat, blieb Leonardo stehen und betrachtete die von weißem Schnee bedeckte Häuserkulisse rings um die Piazza. So still und reglos erschien das Dorf ihm schön, wie nur Dinge es sein können, die nichts mehr mit dem Menschen zu tun haben.“

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