Wobei Lese“vergnügen“ nicht ganz das richtige Wort ist. Es ist keine klassisch „schöne“ Geschichte, die Caroline Wahl erzählt. Aber sie schafft es, eine warme Atmosphäre zu schaffen, inmitten ungemütlicher Umstände.
Tilda studiert Mathematik und ist darin so erfolgreich, dass der Prof sie für eine Promotionsstelle in Berlin empfehlen will. Doch so einfach kann Tilda nicht weg: Sie hat eine zehnjährige Schwester, mit der sie bei der alkoholkranken Mutter lebt. Die kann sie nicht einfach alleine lassen. Oder doch? Sie entwickelt einen Plan, Ida resilienter und stark zu machen: Bücher, Schwimmen und neue Kontakte gehören dazu. Denn sie weiß, was auf Ida noch zukommen könnte.
„Als ich 13 Jahre alt war, gab sie mir zum 1. Mal den gefüllten `Klaras Bücherstube´-Jutebeutel, den ich doch vor der Schule schnell entleeren könne. Dabei waren die Glasmülltonnen gar nicht auf dem Schulweg. Bereits vor der Beutelübergabe merkte ich, dass sie vor allem abends oft anders war, albern, aufgedreht und irgendwie aggressiv, aber dass sie trank, realisierte ich erst, als meine Klassenkameraden und ich auf der Eisbahn anfingen, Alkohol auszuprobieren. Ich weiß noch, wie ich Marlene sah, mit der Flasche Doppelkorn in der Hand, lachend mit leuchtenden Augen, irgendwie dümmlich, und begriff.“
Beim Schwimmen – stets 22 Bahnen – begegnet Tilda Viktor, dem älteren Bruder eines Freundes, der bei einem Autounfall ums Leben kam. Sie fühlt sich hingezogen, doch hat eigentlich keinen Nerv für eine Romanze. „Das ist keine Liebesgeschichte“, sagte sie auch immer wieder zu ihrer Schwester, denn die Annäherung zu Viktor basiert auf ihren und seinen Problemen: Er muss das leere Haus seiner toten Familie ausräumen, sie mit dem Verschwinden von Ida und dem Selbstmordversuch der Mutter klarkommen.
„22 Bahnen“ zu lesen tut nicht weh, obwohl es solche dunklen Themen berührt. Doch Caroline Wahl überschreitet nicht die Grenze, Schlimmes zu schildern. Der Leser, die Leserin wird nicht „gequält“; den Charakteren geschieht, auch wenn sie leiden, kein Leid. Die „schlimmen“ Geschehnisse passieren quasi im „Off“, die Personen versuchen nur noch, mit den Konsequenzen klarzukommen. Und das wiederum ist eingebettet in viel Wärme: Die sehr nahe, innige Schwesterbeziehung zwischen Tilda und Ida, die respektvolle, selbstverständliche Annäherung zwischen Tilda und Viktor geben den schwierigen Leben der Protagonisten einen positiven Aspekt und dem Leser Hoffnung.
Ich habe nach dem Lesen noch einmal das Gespräch zwischen Denis Scheck und Caroline Wahl angeschaut, und finde es belanglos. Sie bleibt mir unsympathisch, und ich habe den Eindruck, dass auch Scheck ihrer Schreibkunst nicht völlig erlegen ist. Überrascht bin ich aber über den Text im Begleitartikel, der nach dem Erscheinen des Fortsetzungsbuches „Windstärke 17“ alles andere als wohlwollend formuliert:
„Wenn man möchte, kann man die beiden Romane von Caroline Wahl durchaus als entradikalisierten Neo-Espressionismus (sic!) lesen, bei dem letztendlich immer alles gut wird. In Zeiten allumfassender Weltenzerbröselung ist dies der Stil, mit dem viele Leser gewonnen werden, zumindest diese Gewissheit gibt es noch.“
Das trifft es ganz gut – und fast überlege ich, nochmal einen halben Stern abzuziehen. Aber diese treffende Einordnung ändert ja nichts daran, dass auch ich das Buch gerne gelesen – und mich in dem warmen Gefühl darin aufgehoben gefühlt habe.