Bei „Willkommen in Wellville“ ist diese Figur John Harvey Kellogg, der mit seinem Bruder die Cornflakes erfand. Um Frühstückskost geht es aber nur in einem Strang der Erzählung. Im Mittelpunkt steht das Sanatorium, das Dr. Kellogg Anfang des 20. Jahrhunderts in Battle Creek., Michigan, betreibt.
„Niemand gewann die Oberhand über John Harvey Kellog, niemand. Er war Herr und Meister all dessen, was er überblickte, Boss, König, Beichtvater und Patriarch für tausende von dyspeptischen Patienten und zweiundvierzig Kinder, die er und Ella im Laufe der Jahre adoptiert hatten. Es gab Charlie Posts auf der Welt, na gut, es gab seinen Bruder Will, der ihm die Corn-flakes-Konzession vor der Nase weggekauft hatte (…), und vielleicht gewannen sie einzelne Scharmützel, aber John Harvey Kellogg gewann die Kriege. Immer.“
Ein „Patient“ des Sanatoriums ist Will Lightbody, der seiner Ehefrau Eleanor zuliebe mitgefahren ist. Eleanor verehrt Kellogg, wie zahlreiche andere der Oberschicht, auch Prominente, die ihre Zipperlein in Urlaubs-Atmosphäre „kurieren“. Will aber hat ernste Magenschmerzen, ein konstantes Brennen, eine Flamme im Magen. Er ahnt nicht, was ihn ihm Sanatorium erwartet und wie lang er bleiben wird.
“Eleanor zeigte nach einem immerhin halbjährigen Aufenthalt noch keinerlei Neigung abzureisen. Und so war er immer noch hier, in Battle Creek, und zahlte eine monatliche Pensionsgebühr an die Kelloggsche Schatzkammer, die jede südamerikanische Kolonie in den Ruin getrieben hätte, und dabei verbesserte sich sein Zustand mit glazialer Geschwindigkeit. Er hatte ausgerechnet, dass die Flamme erlöschen würde, bliebe er bis in die zwanziger Jahre im Sanatorium (…), daß er dann jedoch weniger als bei seiner Geburt wiegen würde.“
Boyle recherchiert gut. Es lohnt sich immer, parallel zum Buch den Wikipedia-Artikel über die Protagonisten zu lesen: Kellogg war ein Verfechter des Vegetarismus, der sexuellen Enthaltsamkeit – und der Einläufe. Aber in gewisser Weise auch ein Vorkämpfer der gesunden Ernährung, wenngleich das meiste nicht so schmackhaft war wie heute „seine“ Cornflakes.
„`Sie haben Ihren Kumyß noch nicht probiert.´ (…) Er nahm das Glas und trank einen Schluck. Es schmeckte ranzig, und beinahe wäre es ihm wieder hochgekommen. Das Zeug war buchstäblich faulig, was immer es war. Es roch wie ein nasser Hund und schmeckte wie ranzige Butter, wie verschimmelter Apfelwein, wie Dreck. `Was -?´ Er würgte es wieder hinunter. `Was ist das überhaupt?´ Ihre Augen strahlten. `Ursprünglich fermentierte Stutenmilch. Aber der Boss benutzt die Rindervariante.´“
Das Besondere an Boyle-Büchern ist: Man ahnt oft, was passiert. Weiterzulesen ist dann wie ein schriller hoher Ton, der nicht weg geht. Wenn es dann endlich passiert, ist es keine Erlösung – und doch ist es immer wieder lesenswert. Ich mag Boyles Sprache. Er geht nicht „auf den Aufzug zu“, sondern „auf das Maul des Aufzugs“. Er wartet nicht „zehn Minuten“, sondern „zehn Minuten seines Lebens“. Er sieht nicht „seinen Kopf“, sondern „die runde Kugel seines Kopfes“. Eine Metallstange ist „vor Rost dunkel wie Blut“. Boyle erzeugt Bilder – durch seine Geschichten und durch seine Sprache. Auch wenn „Willkommen in Wellville“ nicht das allerbeste Buch Boyles ist: Boyle geht immer 🙂