Peter Temple verlangt dem Leser mit „Wahrheit“ einiges ab. Er erklärt nichts, führt nichts aus, hilft nicht dabei, Personen zuzuordnen oder Zusammenhänge zu verstehen. Das Buch beginnt, als gäbe es einen ersten Teil, als müsse man alle Charaktere schon kennen. Allein auf den ersten drei Seiten tauchen neun Namen auf. Die Hierarchie der Vorgesetzten habe ich bis zum Schluss nicht durchschaut. Und erschwert wird alles noch dadurch, dass nicht nur die Akteure mal mit Vor-, mal mit Nach-, und dann wieder mit Spitznamen angesprochen werden, sondern auch die Tatort Namen haben, die wie Personen klingen.
All das ist ausgesprochen bedauerlich, denn die Geschichte ist vielschichtig, vielleicht ein wenig überfrachtet, und Temple vermittelt sehr eindringlich das Leben eines Polizisten, der an seine Grenzen kommt, beruflich und privat.
„Villani dachte an die Toten, die er gesehen hatte. Er konnte sich an alle erinnern. Leichen in Sozialwohnungen, in flachen braunen Häusern mit Ziegelverblendung, in vollgekotzten Gassen, schmutzfleckigen Auffahrten, Kofferräume, Tote, in Abflusskanäle gezwängt, in Gullys gestopft, in Dämme, Flüsse, Bäche, Kanäle versenkt, unter Häusern vergraben, in Minenschächte geworfen, eingemauert, in Zement einbalsamiert, erschossen, erstochen, erwürgt, erschlagen, zerschmettert, vergiftet, ertränkt, durch einen Stromschlag getötet, erstickt, verhungert, aufgespießt, zerstückelt, von Gebäuden gestoßen, von Brücken geschmissen. Das ließ sich nicht zurückdrehen, nicht rückgängig machen, der Anblick dieser Toten hatte ihn geprägt.“
Steve Villani hat – auch wenn man es zunächst nicht merkt – kein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Er hält sich nicht für mutig, nicht für Chef-geeignet, nicht für liebenswert. Letzteres ist er angesichts seines trockenen Sarkasmus vielleicht wirklich nur schwer.
Bei „Wahrheit“, in dem zunächst der Mord an einer jungen Frau im teuersten Wohnkomplex Melbournes und dann die Foltermorde an zwei Gangstern aufgeklärt werden sollen, geht es nicht um eine klassische Ermittlungsgeschichte. Es ist kein klassischer Krimi.
„Wahrheit“ erzählt vielmehr die Geschichte dieser Ermittlung – und noch viel mehr. Der Leser begleitet Villani – zum Empfang der Schönen, Reichen und Mächtigen, zu dem sein Chef ihn drängt, ebenso, wie nach Feierabend ins einsame Appartment, in das er nach der Trennung von seiner Frau zieht. So lernt der Leser Villani anders kennen als seine Kollegen: Die Zweifel, die Intuitionen, die Sorge um seine Tochter Lizzie und um seinen Vater Bob – der von den schlimmen Buschbränden bedroht aber zu stur ist, sich in Sicherheit zu bringen. All das zeichnet einen empfindsamen Menschen, der sich das aber niemals anmerken lässt. Er gilt als cool, integer (als einer der wenigen – obwohl auch er es nicht ist), als gefühlskalt.
“Die Dunkelheit lagerte noch haushoch zwischen den Mauern der Stadt, blockierte die Fahrspuren, die Eingänge, hing in den Straßenbäumen, während Villani unter ihren Klippen dahinfuhr, nach Lizzie Ausschau hielt, in die Gassen spähte. Er verhielt sich wie ein Cop, Cops sahen die Welt nicht wie andere Menschen. Bis zum Beweis des Gegenteils hielten sie alles und jeden für verdächtig.“
Dieser Absatz zeigt die Diskrepanz dieses Buchs: Die ersten Sätze so sperrig, die Bilder so schief, dass ich sie zwei Mal lesen muss. Und dann so eine schlichte Erkenntnis, die wahrscheinlich das Verhalten von unzähligen Polizisten weltweit erklärt – vom Streifenpolizisten bis zum Polizeipräsidenten.
Das macht zwar irgendwie den Reiz des Buchs aus, nervt aber streckenweise gewaltig – wenn man schon wieder nicht weiß, um welchen Tatort es gerade geht, wer der erwähnte Charakter gleich wieder war, und auch das Zurückblättern keine Aufklärung bringt.
Wegen der Vielschichtigkeit der Geschichte – es geht wie erwähnt nicht nur um die Ermittlung selbst, sondern auch um eine zerrüttete Ehe, um ein Vater-Sohn-Verhältnis, um Buschbrände und die australische Gesellschaft – wegen dieser Vielschichtigkeit hätte das Buch mehr Sterne in meiner Bewertung verdient, und ich möchte zum Lesen von „Wahrheit“ raten. Allerdings mit der dringenden Empfehlung, selbst ein Personenregister mitzuschreiben, welches dieses Buch mehr als nötig hat.
„Bald war er auf der Straße, orangefarbene Sonne hinter dem Dunst, und suchte Finucane, dachte unverständlicherweise an Bobs erstes Rennpferd, das beste Pferd, das er je hatte, die fantastische kleine Schimmelstute namens Wahrheit, die ihr zweites Rennen gleich gewann, drei von zwölf gewann, immer lauffreudig war, nie aufgab. Sie wurde krank und starb binnen Stunden, brach zusammen und starb, ihre guten Augen vergaben ihnen, dass sie unfähig waren, sie zu retten.“