Eine – man könnte sagen: abgefahrene Geschichte, erzählt aus der Sicht einer Dreizehnjährigen. Wobei abgefahren nicht das richtige Wort ist. Karen Russell hat mit ihrem Debütroman eine Mischung aus Fabel und Natur-Erzählung geschrieben, und die Handlung an einen der ungewöhnlichsten Orte versetzt, die ich je in einem Nicht-Science-Fiction-Buch erlebt habe. „Erlebt“ ist wörtlich gemeint: Beim Lesen „lebt“ man mit der jungen Ava in den Sümpfen der Ten-Thousand-Islands vor der Küste Floridas, inmitten der Mangrovenwälder und Sägegras-Prärien.
Ava kennt kein anderes Leben als das in „Swamplandia“.
“Rocklands High. Ossie wäre was, am Festland-Maßstäben gemessen? Eine Zehntklässlerin. Ich wäre in der Fünften, vorausgesetzt, man steckte mich nicht in irgendeine Auffangklasse für Vollidioten. Als ich mir vorstellte, ich sei in einer Schulklasse, füllte sich der Raum rasch mit Sumpfwasser, und sämtliche Tische und Bücher trieben davon, bis er sich in unsere Alligatorengrube verwandelt hatte. Wir waren die Bigtree-Ringer-Dynastie. Kiwi wollte unsere gesamte Zukunft aufgeben – und wofür? Einen Sack Kantinenpommes? Ein Schulschließfach?“
Der Vergnügungspark „Swamplandia“ war einmal ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen aus aller Welt – die Alligatoren-Ringerin Hilola Bigtree war eine Attraktion. Sie schwamm mit den riesigen urtümlichen Tieren, und brachte das Ringen mit den Tieren auch ihrer Tochter Ava bei. Die ist 13, als die Mutter an Krebs stirbt – doch nicht nur deshalb ist sie plötzlich mutterseelenallein.
“Man glaubt immer, es sei unerträglich, die Wahrheit nicht zu wissen, bis man sie erfährt, oder?“
Ihre Schwester Osceola, genannt Ossie, und ihr Bruder Kiwi verschwinden ebenso wie ihr Vater. Der geht zuerst, angeblich auf „Geschäftsreise“, tatsächlich sucht er einen Job auf dem Festland, um „Swamplandia“ zu retten. Seit Hilolas Tod und seit der Eröffnung eines größeren, moderneren Vergnügungsparks auf dem Festland bleiben die Gäste aus.
“Welt der Finsternis“ heißt der neue Vergnügungspark, bei dem der 17-jährige Kiwi sein Glück versucht – auch er will den Park retten. Zurück bleiben die beiden Schwestern, die 89 Alligatoren versorgen und in den Tag hinein leben. Bzw in die Nacht hinein – Osceola hat Visionen und ist „von Geistern befallen“, die Nächte verbringt sie mit ihnen, bis sie mit einem davon „durchbrennt“.
Ava bleibt allein zurück, und begibt sich auf die Suche nach ihrer Schwester, die in der „Unterwelt“ ihren Geist heiraten will – einem Zwischenreich, dessen Eingang zwei Tagesfahrten entfernt in den Sümpfen liegen soll. Begleitet wird Ava vom „Vogelmann“,
Es sind die feinen sprachlichen und phantastischen Momente, die dieses Buch hinreißend machen: Die Parallelen zwischen der „Unterwelt“ und der „Welt der Finsternis“ als Orte der Hoffnung und der schrecklichen Realitäten sind nur ein Beispiel. Karen Russell erzählt aus der Sicht der Dreizehn-Jährigen, die noch mehr Kind ist als Jugendliche, aufgewachsen fern der Zivilisation in den Sümpfen, mit einer Familie, die sich als „Stamm“ bezeichnet und „Haustieren“, die man eher ungern streichelt.
“Ich betrachtete Schweine und Alligatoren als unsere tierischen Vettern, denn sie entstammten demselben Schlamm, in dem Ossie, Kiwi und ich aufgewachsen waren.“
Dennoch fehlt dem Buch über weite Teile der Spannungsbogen. Es ist eben eine „phantastische“ Geschichte – bis doch noch die Realität einbricht. Eine überraschende Wendung, die dem Buch doch noch die lang vermisste Spannung verleiht. „So ein Schmarrn“ mag sich der Leser immer wieder denken. Aus der Sicht einer Heranwachsenden aber, eines Kindes, ist es pure Realität; das Vermögen, sich die Welt selbst zu erklären, irgendwie.
Genau das macht „Swamplandia“ zu einem außergewöhnlichen und lesenswerten Buch.