Precipice

Robert Harris

Seiten: 445
Verlag: Penguin Random House
Erscheinungsjahr: 2024
ISBN-Nummer: 978-1-52-915283-8

Auf den Literaturtagen München hab ich die Lesung von Robert Harris zu diesem Buch besucht. Und weil ich mir ausnahmsweise mal wieder ein Buch signieren lassen wollte, hab ich es dort gekauft. Die Handlung klang vielversprechend, ich war jedoch ein wenig enttäuscht.

Venetia Stanley stammt aus einer wohlhabenden, einflussreichen Familie. Sie ist 26 Jahre alt, und hat ein Verhältnis mit dem Premierminister H.H. Asquith, der ihr Vater sein könnte. Es ist die Zeit kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die beide kommunizieren in Briefen, unzähligen Briefen, manchmal mehreren an einem Tag. Freitags fahren sie in seinem riesigen Dienstwagen durch die Gegend, das ist die Zeit ihrer Stelldicheins, hier sind sie allein und unbeobachtet.

Asquith bringt immer wieder Dokumente mit zu diesen Treffen, zeigt sie ihr.

“After a while, she let go of his hand and picked up the folder of documents. She glanced at him for permission. He nodded. `Of course  – that‘s why I brought it.´ The file was entirely devoted to Ireland. Census reports, maps of the north. (…) He said, `It‘s the nearest thing I‘ve ever seen to an insoluble problem – and by God, I‘ve run up against a few these past six years.´ (…) `Something will turn up. You‘re brilliant.´ She tried to hand him the folder. `Keep it. Give it back next time I see you. Perhaps you can see a solution.´ `That I doubt!´ The idea that she could somehow solve the Irish Question lying in her bed in Mansfield Street was blatantly absurd, and he must have known it, but the gesture touched her. She reached over and stroked his hair. `All will be well. I have faith in you.´

Als der Krieg anfängt, werden es immer mehr Informationen, die als Telegramme, Dokumente oder Erzählungen den Weg zu ihr finden. Asquith schreibt ihr Briefe während Kabinettssitzungen, hat das Gefühl, nur dann klar denken zu können, wenn er es an sie kommuniziert.

“She picked up the telegram again. He had been sending her more and more documents lately: a handwritten letter from the Queen last Thursday, another yesterday from Lord Kitchener about troop deployments. But this was easily the most extraordinary. The telegram was stamped SECRET, it contained the exact details of the defensive position to which the army was retreating, and he had sent it through the ordinary post! What was she supposed to make of it? She could hardly offer him advice on military tactics.“

Weil Asquith auf den Spazierfahrten auch eingestufte Dokumente einfach zerknüllt aus dem Fenster wirft – und sie von Bürgern gefunden und bei der Polizei abgegeben werden – beginnen Ermittlungen. Der junge Polizist Paul Deemer wird damit betraut herauszufinden, was es mit den Papieren auf sich hat.

„`Well, here‘s a job for you. Quite a puzzle. Take a look at that.´He lifted the lid of a small cardboard box and pushed it across his desk. Inside were various pieces of what looked at first glance to be wastepaper, typed on tissue-thin paper, dirty and weather-blown. (…) Deemer glanced at him. `Those are classified Foreign Office telegrams dispatched just before the outbreak of war, recently discovered in three separate locations.´(…) `Discovered by members of the public?´ `Indeed, all quite independent of one another.´“

Deemer ermittelt, denn der Verdacht der Spionage steht im Raum. Er kommt dem Geheimnis von Venetia und dem Premier auf die Spur, liest monatelang die Korrespondenz mit – und kann doch nichts dagegen tun.

“Precipice“ liest sich runter, ist einfach geschrieben, hat aber Längen. Wie immer hat Robert Harris gut recherchiert und verwebt Fakten mit Fiktion. Denn das krasseste an dieser Geschichte ist, dass sie zur Hälfte wahr ist: Es gab tatsächlich den britischen Premierminister H.H. Asquith, der mindestens eine sehr enge Freundschaft zu der halb so alten Venetia Stanley hatte. Der ihr in der Zeit des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs sämtliche geheimen militärischen Informationen zukommen ließ. Und der diese zum Teil sogar achtlos aus dem Fenster seines Autos warf.

Das ist belegt: Die Tochter von Venetia Stanley hat die unzähligen Briefe des Premierministers an sie aufgehoben. Robert Harris hatte Zugang zu diesen Briefen. Umgekehrt hatte Herbert Asquith alle Briefe von Venetia zerstört. Dieser Teil der Geschichte, wie Venetia auf die Briefe geantwortet hat, ist also erfunden.

Dieses unglaubliche Handeln des Premiers, zu diesem Zeitpunkt der Geschichte, das ist der eigentliche Antrieb in diesem Buch. Es ist insofern lehrreich, dass man diese Geschichte erfährt. Es ist abgefahren. Aber ich habe von Robert Harris trotzdem schon bessere Bücher gelesen.

Ausgewählte Bücher:

Card image cap

Trophäe


Gaea Schoeters
Card image cap

Männer in Kamelhaarmänteln


Elke Heidenreich