Ein Vater, der im Rentenalter Merkmale seiner beginnenden Demenz bemerkt, aber die Augen davor verschließt. Eine Mutter, die sich in Affären flüchtet, um die Leere in Haus und Leben zu übertünchen. Die Tochter, nur beruflich erfolgreich, flieht mit Hilfe von Partys und Alkohol. Der Sohn, ohne Zuhause, sucht dies in den Armen ständig wechselnder Freundinnen.
Gemeinsam haben sie nur das gleiche Schicksal: Den Verlust eines geliebten Menschen. Das Unverständnis dafür, und das Gefühl von Schuld. Unterschiedlich stark ausgeprägt. Das Leben ist ein konstantes Voreinander-Verstecken.
„Ahnt Ulla etwas davon? Dass das Alter nicht nur an deiner Fußgesundheit, sondern auch an deinem Hirn nagt? Nein, nicht solange du jeden Morgen so tust, als läsest du die Meinungsseite, während sie wie immer nur diese idiotischen Werbebeilagen studiert. Wenn dein kränkliches Herz wie ein ängstliches Kaninchen in der ergrauten Brust hoppelt, sieht sie nur die Zeitung zittern, hinter der das Ende versucht zu verbergen, dass es angefangen hat.“
Die Sprache von Harriet Köhler in diesem Buch ist eine Wucht. Die Personen sind im ständigen Selbstgespräch. Schelten sich, spornen sich an, blicken zurück. Ihre separierten Leben werden in kleinen Episoden geschildert, von Person zu Person wechselnd. Nein, „Ostersonntag“ ist kein erbauliches Buch, und doch hat es mich beim Lesen nicht runtergezogen. Natürlich gibt es einen Grund für den Zustand dieser Familie – und die Auseinandersetzung damit soll an Ostersonntag ihren Anfang – oder doch ihr Ende? – finden. Dem unausweichlichen Familientreffen.
„Du nimmst einen Bestseller in die Hand, schlägst ihn auf und wieder zu, gehst weiter, drückst dich weiter um die Stapel im Hugendubel herum, unlustig, unmutig, unentschlossen. Du willst deiner Familie gern Geschenke mitbringen, aber du hast keine Ahnung, was. Du lässt dich auf Rolltreppen durch das Kaufhaus fahren, von unten nach oben und wieder zurück, und am Ende hast Du immer noch keine Idee, aber wenigstens drei Geschenke, die so wirken, als hättest du eine gehabt.“
Googelt man nach Harriet Köhler sind leider kaum weitere Werke von ihr zu finden. Es ist nicht ersichtlich, was sie heute macht – Bücher schreiben scheint es nicht zu sein. Was ich wahrlich bedaure – ich liebe dieses Buch vor allem wegen der Art des Erzählens. Es ist ein Fünf-Sterne-Buch – mit einem halben Punkt Abzug: Der Höhepunkt, auf den die Erzählung schon titelgebend zuläuft, wird nur in der Rückschau erzählt. Die Katharsis bleibt aus – für die Protagonisten, aber auch für den Leser, die Leserin. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, ist das Absicht und ein weiterer Kniff. Er lässt ein Nanogramm Unzufriedenheit zurück.
„Die Sehnen, an denen dein Kopf hängt, hast Du mit Perlen geschmückt. Ein paar Männer sind dafür tief getaucht, tiefer, als du je gestürzt bist. Als Kind hast du mal versucht, die Luft anzuhalten, bis du tot bist, aber so echten Druck auf der Brust fühlst du nur, wenn du auf dem Crosstrainer mal wieder alles gibst, in der Hoffnung, dass nach all den Fastenjahren aus dem alten Fleisch dein junges Ich wieder aufersteht. Eine Dornenkrone aus Schweiß auf der Stirn und daneben dein Personal Jesus. Er und Nike Woman sind die Einzigen, die verstanden haben, woran du noch glaubst.“