Nicht sehr, Lissabon ist einfach eine tolle Stadt – ob nur in der Vorstellung, die beim Lesen dieses Buchs entsteht, oder in echt. Die Geschichte lebt in und durch diese Kulisse, von den ganz speziellen Menschen dort. Die Handlung in eine andere Stadt zu verlegen, das ist nur schwer vorstellbar.
Raimund „Mundus“ Gregorius, Lateinlehrer in Bern, begegnet einer Portugiesin, die aus unerfindlichem Grund etwas in ihm auslöst, eine Sehnsucht nach einer neuen Sprache vielleicht, einem neuen Abschnitt in seinem Leben oder – bahnt sich eine Midlife-Crisis an? – nach einem Sinn…? Er verlässt seinen Unterricht, einfach so, landet in einer spanischen Buchhandlung und stolpert dort über ein Buch mit Gedanken des portugiesischen Arztes Prado.
„Der Buchhändler war gekommen, warf jetzt einen Blick auf das Buch und sprach den Titel aus. Gregorius hörte nur einen Fluss von Zischlauten; die verschluckten, kaum hörbaren Vokale schienen nur als Vorwand dazusein, um das rauschende sch am Schluss stets von neuem wiederholen zu können. ‚Sprechen Sie Portugiesisch?‘ Gregorius schüttelte den Kopf. ‚Ein Goldschmied der Worte‘, heisst es. Ist das nicht ein schöner Titel?‘ (…) ‚Soll ich übersetzen?‘ Gregorius nickte. Und dann hörte er Sätze, die in ihm eine betäubende Wirkung entfalteten, denn sie klangen, als seien sie allein für ihn geschrieben worden, und nicht nur für ihn, sondern für ihn an diesem Vormittag, der alles verändert hatte.“
Gregorius begibt sich auf eine Suche, eine Reise, zu den Spuren von Prado, dem Urheber der Gedanken, die er nun regelmäßig in dem Buch liest. Er reist nach Lissabon, mit dem Nachtzug, stets sich selbst fragend, was er da eigentlich tut – und warum? Und doch treibt es ihn immer weiter. Erste Kontakte in Lissabon bringen ihn zu einem Antiquar, zu Patienten des Arztes, schließlich zum „blauen Haus“, in dem Prado wohnte, seine Praxis hatte und in dem seine Schwester Adriana, hochbetagt, noch immer wohnt.
Gregorius kommt Prado immer mehr auf die Spur, lernt ihn, den längst Verstorbenen, immer besser kennen. Viel zu früh gestorben sei er, sagen alle. Ein Genie, ein einnehmender Mensch, sobald er einen Raum betrat. Der seinem hippokratischen Eid bis zur Selbstverleugnung treu blieb und dies durch seine Mitarbeit im portugiesischen Widerstand wiedergutzumachen versuchte.
Gregorius trifft Begleiter Prados aus dem Widerstand, auch den einstigen besten Freund des Arztes, der stets so anders war als er. Dessen einstige Geliebte, der Prado das Leben rettete und dadurch seinen Freund verlor. Und immer wieder liest er in dem Buch, in dem Prados Gedanken so philosophisch festgehalten sind, und die auch dem Leser als „Buch im Buch“ nahegebracht werden.
„Wir können gewiss sein, dass wir auf dem Sterbebett als Teil der letzten Bilanz festhalten werden – und dieser Teil wird bitter schmecken wie Zyanid -, dass wir zuviel, viel zuviel Kraft und Zeit darauf verschwendet haben, uns zu ärgern und es den anderen in einem hilflosen Schattentheater heimzuzahlen, von dem nur wir, die wir es ohnmächtig erlitten, überhaupt etwas wussten. Was können wir tun, um diese Bilanz zu verbessern? Warum haben uns die Eltern, die Lehrer und die anderen Erzieher nie davon gesprochen? Warum haben sie etwas von dieser gewaltigen Bedeutung nicht zur Sprache gebracht? Uns in dieser Sache keinen Kompass mitgegeben, der uns hätte helfen können, die Verschwendung unserer Seele an unnützen, selbstzerstörerischen Ärger zu vermeiden?“
Wunderschöne, oft treffende Gedanken über das Leben sind das. Allerdings – und dies bleibt mein einziger Kritikpunkt – ziehen sich diese Passagen auch manchmal ein klein wenig hin.
„Nachtzug nach Lissabon“ erzählt eine Geschichte auf zwei Ebenen: Die des alternden Schweizers, der selbst nicht ganz versteht, warum er diese Reise auf den Spuren eines Anderen unternimmt, sich zeitweise bis hin zu Krankheitssymptomen mit ihm identifiziert, sich aber gleichwohl „häutet“, reflektiert und irgendwie auch neu sortiert.
„‚Und was machen Sie hier drin?‘, fragte er. (…) ‚Schwer zu sagen‘ sagte Gregorius. ‚Ganz schwer. Sie wissen, was Tagträumen ist. Ein bisschen so ist es. Aber dann auch wieder ganz anders. Ernster. Und verrückter. Wenn die Zeit eines Lebens knapp wird, gelten keine Regeln mehr. Und dann sieht es so aus, als sei man übergeschnappt und reif für die Klapsmühle. Doch im Grunde ist es umgekehrt: Dort gehören diejenigen hin, die nicht wahrhaben wollen, das die Zeit knapp wird. Diejenigen, die weitermachen als sei nichts. Verstehen Sie?'“
Die Geschichte auf der zweiten Ebene ist die des Portugiesen und jener, die in seinem Leben eine entscheidende Rolle gespielt haben. Es sind besondere Menschen, die einem während des Lesens ans Herz wachsen. Man trägt sie dort noch eine Weile mit sich herum, wenn das Buch schon längst zu Ende gelesen ist.
Und was kann man schöneres über ein Buch sagen, als das?