Andreas Egger ist ungefähr vier Jahre alt, als er in das Tal kommt, in dem er sein Leben verbringen wird. Weder weiß er, wann und wo er geboren wurde, noch, wohin er gebracht wird. Der Schwager seiner Mutter nimmt ihn nur auf, weil er etwas Geld in einem Beutel um den Hals hängen hat.
Egger lebt vor sich hin, nimmt das Leben so, wie es kommt. “Er hatte niemanden, doch er hatte alles, was er brauchte.“ Er ist genügsam, stellt keine Fragen, hat keine Erwartungen.
“Mit dreizehn Jahren hatte er die Muskeln eines jungen Mannes und mit vierzehn wuchtete er zum ersten Mal einen Sechzigkilosack durch die Luke auf den Getreideboden. Er war stark, aber langsam. Er dachte langsam, sprach langsam und ging langsam, doch jeder Gedanke, jedes Wort und jeder Schritt hinterließen ihre Spuren, und zwar genau da, wo solche Spuren seiner Meinung nach hingehörten.“
Und er hat wenig Wünsche. Einer davon ist, Marie zur Frau zu nehmen, was gelingt, doch die gemeinsame Zeit währt kurz. Egger erlebt einen Krieg, er beobachtet den Fortschritt und wird Teil davon, als er bei der Firma anheuert, die in seinem Tal eine Bergbahn baut. Als die Elektrizität Einzug hält – und mit ihr nicht nur Licht, sondern so etwas wie Fernseher – bleibt er ein staunender Beobachter.
“Egger war schon seit Monaten nicht mehr im Wirtshaus gewesen und dementsprechend überrascht, als ihn beim Eintreten statt des üblichen Gasthausgemurmels die etwas blechernen und von einem leisen Rauschen unterlegten Fernsehstimmen entgegentönten. Er ging nach hinten, wo sieben oder acht Leute auf die Tische verteilt saßen und gebannt in das schrankgroße Gerät hineinstarrten. Zum ersten Mal in seinem Leben sah Egger die Fernsehbilder aus nächster Nähe. Mit magischer Selbstverständlichkeit bewegten sie sich vor seinen Augen und trugen eine Welt in das stickige Hinterzimmer des Goldenen Gamser, von der er bislang nicht die geringste Vorstellung gehabt hatte. (…) Egger lachte. Er tat das eher aus Verlegenheit, denn er hatte keine Ahnung, wie man sich in Gegenwart der anderen vor dem Fernsehgerät verhalten sollte. Er schämte sich für seine Unwissenheit. Er kam sich vor wie ein Kind, das den unbegreiflichen Unternehmungen Erwachsener zusieht: Alles war irgendwie interessant, aber nichts davon schien ihn persönlich anzugehen.“
Egger wächst einem sehr ans Herz. Er ist ein reiner Mensch, ohne böse Gedanken. Nur die Touristen nagen mitunter an seinem Geduldsfaden, vor allem, als er in späteren Jahren als Bergführer für sie tätig ist.
“Meistens schwieg Egger während seiner Touren. `Wem das Maul aufgeht, dem gehen die Ohren zu´, hatte Thomas Mattl immer gesagt, und Egger teilte diese Ansicht. Statt zu reden hörte er lieber den Leuten zu, deren atemloses Geplapper ihn in die Geheimnisse fremder Schicksale und Ansichten einführte. Offenbar suchten die Menschen in den Bergen etwas, von dem sie glaubten, es irgendwann vor langer Zeit verloren zu haben. Er kam nie dahinter, um was es sich dabei genau handelte, doch wurde er sich mit den Jahren immer sicherer, daß die Touristen im Grunde genommen weniger ihm als irgendeiner unbekannten, unstillbaren Sehnsucht hinterherstolperten.“
Ja, man fühlt sich als „Stoderer“, als Mensch aus der Stadt, mitunter ertappt. Diese unstillbare Sehnsucht kennt man, und beim Lesen beneide ich Egger, die eins ist mit der Natur, für den die Berge, der Sonnenaufgang, die ersten Schneeflocken so selbstverständlich sind.
Robert Seethaler schildert, was er ankündigt: „Ein ganzes Leben“. Verpackt auf gut 180 Seiten, und man hat am Ende nicht das Gefühl, es sei etwas ausgelassen worden. Es ist das Einfache, das beeindruckt. Das einfache Leben. Das einfache Handeln. Es wirkt alles so einfach. Vielleicht ist es das auch? Ein Buch, das nachhallt. Ich liebe es!
“Soweit er wusste, hatte er keine nennenswerte Schuld auf sich geladen, und er war den Verlockungen der Welt, der Sauferei, der Hurerei und der Völlerei, nie verfallen. Er hatte ein Haus gebaut, hatte in unzähligen Betten, in Ställen, auf Laderampen und ein paar Nächte sogar in einer russischen Holzkiste geschlafen. Er hatte geliebt. Und er hatte eine Ahnung davon bekommen, wohin die Liebe führen konnte. Er hatte gesehen, wie ein paar Männer auf dem Mond herumspazierten. Er war nie in die Verlegenheit gekommen, an Gott zu glauben, und der Tod machte ihm keine Angst. Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen.“