Ohne Erwartungen und etwas unlustig habe ich John Le Carrés „Der wachsame Träumer“ zur Hand genommen: Mal „anlesen“ wollte ich, nachdem es zehn Jahre ihm Regal darauf gewartet hat. Zwar nicht fesselnd, aber doch so geschrieben, dass man dran bleibt, habe ich dieses Buch letztendlich gelesen, ohne es wirklich vorgehabt zu haben – was ja für das Werk spricht.
Es ist das erste Buch, das Le Carré jenseits seines eigentlich Metiers, des Spionage- und Agententhrillers, geschrieben hat – und das erste, das ich von ihm gelesen habe. In den Kritiken kam das Werk wohl nicht gut an, und so verteidigt Le Carré es in seinem Vorwort:
„Der wachsame Träumer ist mitnichten ein Ausreißer, er steht im Einklang mit allem, was mich all diese Jahre immer wieder an den Schreibtisch zurückgetrieben hat. Ob er als Roman geglückt ist, das kann nur der Leser entscheiden.“
Worum geht es? Um einen Mann in der Midlife-Crisis, der alles erreicht hat – Frau, zwei Kinder, eine eigenes Unternehmen, Wohlstand. Der sich stets an Sitten und Gebräuche gehalten und sich angepasst, nie Widerspruch geleistet hat. Und der nun aus all dem ausbricht, als er ein Pärchen kennenlernt, die in allem das Gegenteil von ihm sind: Unangepasst, auf jegliche Konvention pfeifend, gewissenlos.
Aldo Cassidy, der Protagonist, ist schon von Beginn des Buchs an nicht sehr sympathisch:
“Cassidy fuhr wohlgemut durch den abendlichen Sonnenschein, sein Gesicht war so nah an der Windschutzscheibe, wie der Sicherheitsgurt es zuließ, der Fuß wechselte rastlos zwischen Gaspedal und Bremse, der Blick spähte die schmale Straße entlang nach verborgenen Gefahren.“
Selten wurde ein Charakter im ersten Satz so treffend und umfassend beschrieben. Cassidy begegnet Shamus und Helen, als er ein leerstehendes hochherrschaftliches Gebäude auf dem Land besichtigen will, um es zu kaufen – die beiden wohnen dort.
“Er war (…) ein sehr gut aussehender Mann. Wo Cassidy sich wölbte, war der andere platt. Wo Cassidy schwach war, war der andere resolut; hier kompromißbereit, dort feurig; wo Cassidy Flüssigkeit war, war der andere Fels, und wo er blaß und blond war, war sein Widerpart dunkel und jäh und eifrig. Aus seinem gut geschnittenen Gesicht leuchteten dunkle Augen von großer Lebhaftigkeit; ein gälisches Lächeln, zerstörerisch und wissend zugleich, erhellte seine Züge.“
Le Carré erzählt die Geschichte der beiden, der drei, bei der der Leser stets das Gefühl hat, dem naiven Cassidy einen Schritt voraus zu sein: Legt Shamus – der sagt, er sei Schriftsteller, gleichzeitig aber nie einen Groschen Geld hat – ihn nicht von vorne bis hinten rein, zieht ihn über den Tisch, veräppelt ihn? Warum lässt Cassidy das mit sich machen?
Oder ist es letztendlich Cassidy, der dem Leser voraus ist, erfährt er doch im Zusammensein mit Shamus und Helen eine tiefe Liebe, eine Freiheit und bedingungslose Unabhängigkeit, der hinzugeben man sich erstmal trauen muss?
An einer Stelle will man als Leser aufatmen, scheint Shamus doch das erste und einzige Mal die Wahrheit zu sagen – und doch: Am Ende ist man sich dessen wieder nicht sicher.
“ ´Du bist etwas Besonderes, Shamus, das wissen wir alle…`
´Du weißt es, nicht wahr, Lover?`
´Ich weiß es. Helen weiß es. Wir alle wissen es…` (…)
´Glaubst Du wirklich den ganzen Dreck, den ich Dir erzähle? Hör zu, ich bin der lausigste, beschissenste Taschenspieler im ganzen Laden, und du fällst auf jeden faulen Trick herein. Nietzsche, Schiller, Flaherty. Nie im Leben habe ich eine Zeile von diesen Scheißkerlen gelesen. (…) Ich bin ein Landstreicher. (…) Ich bin ein Betrüger. Kapiert? Ein Schwindler. Ein ausrangierter Taschenspieler, und mein Publikum besteht aus einem Menschen.`
´Nein!`schrie Cassidy. ´NEIN! NEIN! NEIN!`
Obwohl die Geschichte vor sich hinplätschert fällt es nicht schwer, immer weiter zu lesen. Kopfschütteln, Staunen, Verwunderung, Genervtsein wechseln sich beim Lesen ab – und irgendwann die Erkenntnis, dass beide Hauptfiguren des Buchs genau dort sind und das tun, was sie gerade wollen – vielleicht sogar in vollem Wissen.
“Ich bin nicht wie Du, Shamus, ich bin kein Gefühlsmensch, ich bin kein Draufgänger, ich bin der Sohn eines Hoteliers. Das und nicht mehr. Ich bin Verstandesmensch, und mir sind die Dinge recht so, wie sie sind, solange sie meiner Sache nützen. Ich bin kein Menschenfreund, sondern ein Freund von Kompromissen und orthodoxen Meinungen. (…) Ich halte sehr viel auf die Vergangenheit, und wenn ich wüßte, woher ich komme, würde ich wie ein Pfeil dorthin zurückkehren. Und ich bin auch, Du hast ganz recht, ein Scheißkerl.“
Am Ende spitzt sich die Menage à trois zu einem fulminanten Finale zu, das zwar irgendwie stimmig ist und auch ein logisches Ende der Geschichte einleitet, mir aber dennoch ein wenig zu überspitzt ist.
Nichtsdestotrotz: Die Art und Weise, wie Le Carré eine Geschichte von Liebe und Freundschaft, von der Freiheit des Lebens und den Zwängen des Alltags erzählt, das hat was. Ich könnte diesem Buch genauso gut fünf Sterne geben…