Ganz unbegründet war diese Sorge nicht, wenngleich es in „Der große Trip“ weniger um eine Reise, als um eine seeeehr lange Wanderung geht. Cheryl, die Autorin, wandert auf dem Pacific Crest Trail, ein Fernwanderweg, der von der Grenze Mexikos bis zur Grenze Kanadas führt. Es geht durch die Wüste, über Berge und durch Wälder. 4.284 Kilometer lang.
“Ich beschloss, an dieser Linie entlangzuwandern – jedenfalls so weit, wie ich in hundert Tagen kam. Ich lebte damals getrennt von meinem Mann in einer Einzimmerwohnung in Minneapolis und jobbte als Kellnerin, so tief gesunken und durcheinander wie nie zuvor in meinem Leben. Jeden Tag hatte ich das Gefühl, in einem tiefen Brunnen zu sitzen und nach oben zu blicken. Aber auf dem Grund dieses Brunnens machte ich mich daran, eine Solo-Wildnis-Trekkerin zu werden.“
“Der große Trip“ ist also auch eine Suche nach sich selbst – oder, wie Cheryl es nennt – eine Heilung. Denn vorausgegangen waren eine Scheidung, der zu frühe Tod der Mutter, viele Affären und der drohende Absturz in eine Heroin-Abhängigkeit. Cheryl musste raus aus all dem, und zwar allein.
“Als schließlich alles, was ich tragen sollte, an seinem Platz war, überkam mich Ruhe. Ich war startklar. Ich zog meine Armbanduhr an, hängte mir das rosa Neoprenband meiner Sonnenbrille um den Hals, setzte meinen Hut auf und betrachtete den Rucksack. Er wirkte riesig und kompakt zugleich, leidlich ansehnlich und auf einschüchternde Weise sich selbst genügend. Er hatte fast etwas Lebendiges. In seiner Gesellschaft fühlte ich mich nicht mehr ganz so allein. Aufrecht stehend reichte er mir bis zur Taille. Ich bückte mich, um ihn hochzuheben. Er rührte sich nicht.“
Cheryl hat sich nur leidlich auf ihren großen Trip vorbereitet. Weder hat sie die Stiefel eingelaufen (die, wie sich herausstellt, eine Nummer zu klein sind), noch hat sie ihre Kondition trainiert. Entsprechend hart sind die ersten Tage und Wochen auf dem Trail.
„Die wichtigste Erfahrung, die ich in jenem Sommer machte – und die doch ganz simpel war wie die meisten, die man beim Wandern auf dem Pacific Crest Trail macht – war, wie wenig Alternativen ich hatte und wie oft ich gerade das tun musste, was ich am wenigsten wollte. Es gab kein Weglaufen und kein Leugnen. Kein Runterspülen mit einem Martini und kein Überspielen mit Sex. (…) Ich musste mir alles abverlangen, um vierzehn Kilometer am Tag zu schaffen. Weit mehr, als ich körperlich je hatte leisten müssen. Mein ganzer Körper tat mir weh. Bis auf mein Herz. Ich begegnete niemandem, aber seltsamerweise vermisste ich auch niemanden. Ich sehnte mich nur nach etwas zu essen, nach etwas zu trinken und nach einer Gelegenheit, den Rucksack abzusetzen.“
Das gibt sich im Laufe der Wochen, die Kondition wird besser. Pannen geschehen dennoch: Einer der Stiefel fällt einen Abgrund herunter. Auf den Gipfeln der Berge liegt so viel Schnee, dass sie die Etappe umfahren muss. Bären tauchen auf, Klapperschlangen, Menschen. Mit manchen verbringt Cheryl Zeit, man tauscht sich aus, lernt voneinander. Und wandert dann alleine weiter. Drei ganze Monate.
Ich hatte keine großen Erwartungen an dieses Buch. Vielleicht hat mir “Der große Trip“ deshalb so gut gefallen. Ich konnte mit Cheryl mitfühlen: Die Qual des Wanderns bei gleichzeitigem Erfülltsein von der Schönheit der Natur, dem Erfolgserlebnis am Ende einer Etappe, dem Nicht-enden-wollen des Weges… Ja, ein wenig wird der Wunsch geschürt, so einen Trip mal selbst auszuprobieren. Wobei das das falsche Wort ist. Auf dem Pacific Crest Trail gibt es nur: Machen. Kein Ausprobieren. Ein weiterer Reiz des Buchs ist sicherlich auch, dass Cheryl Strayed diese Wanderung in einer Zeit gemacht hat, als es noch keine Handys und Navigationsgeräte gab. Heute würde so eine Reise anders aussehen – wenngleich das eher für die geografische Reise gilt. Die Reise zu sich selbst findet bei so einem Trip sicher auch heute noch von ganz alleine statt.