„Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, wenn irgendwo eine Kaserne in die Luft geht, wenn irgendwo in einem Stadion die Tribüne einstürzt, seid bitte nicht überrascht. Genauso wenig wie bei der Bombardierung des Stadtzentrums von Hanoi.“
Der Widerstand gegen den Vietnamkrieg, gegen alte Strukturen in der BRD, gegen nationalsozialistische Umtriebe auch noch zwanzig Jahre nach dem Ende des Krieges waren es, die die Mitglieder der RAF zusammenbrachte. Wer sie waren, wie sie operierten, warum sie das taten und wohin das führte: All das fasst Stefan Aust in seinem dokumentarischen Klassiker zusammen.
Fast zwanzig Jahre, nachdem ich das Buch gekauft habe, habe ich es nun gelesen. In einer Zeit, in der Rechtspopulisten und – extremisten wieder eine zunehmende Rolle in Politik und Gesellschaft weltweit spielen, ist der Ausflug in die Geschichte des Deutschen Herbstes, der dominiert war von linksextremistischen und -terroristischen Machenschaften, interessant und befremdlich zugleich.
Dass die Politik im Kampf gegen Terrorismus – damals den deutschen, heute den internationalen – letztendlich immer mit ähnlichen Reflexen reagiert war eine der interessanten Schlüsse dieser Lektüre. Die rot-gelbe Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt hat im Zuge des Kampfes gegen die RAF bestehende Gesetze gebeugt und neue Gesetze erlassen, in einer Art und Weise, die auch heute für Empörung und Aufschrei sorgen dürfte.
„Nacheinander waren Baader-Meinhof-Anwälte wie Groenewald, Croissant, Ströbele und Lang aufgrund zum Teil fadenscheiniger Verdachtsmomente von der Vertretung der RAF-Gefangenen ausgeschlossen worden. Der Bonner Gesetzgeber war ebenfalls nicht untätig geblieben. Am 20. Dezember 1974 verabschiedete der Bundestag eine Reihe von Gesetzen, um die Abwicklung der RAF-Prozesse für die Justiz zu erleichtern.“
Dass sich weder die Ermittler noch die Politik mit Ruhm bekleckert haben bei der Aufklärung der Straftaten und dem Umgang mit den Terroristen ist hinlänglich bekannt. Doch Aust schildert auch, was hinter den Kulissen passierte. Protokollartig verknüpft er Recherchiertes, und zeichnet damit ein umfassendes Bild des Deutschen Herbstes, der kaum einen der Akteure als – moralisch oder strafrechtlich betrachtet – Unschuldigen zurückliess.
„Am Rande des ‚Großen Krisenstabes‘, der in den Tagen und Wochen der Schleyer-Entführung immer wieder zusammentrat, wurden noch ganz andere Vorschläge gemacht. Verkleidet in die Form der Wiedergabe von Volkes Meinung warf Franz Josef Strauß, der zu einer der Sitzungen betrunken erschienen war, den Vorschlag in die Diskussion, Standgerichte zu schaffen und für jede erschossene Geisel einen RAF-Häftling zu erschießen.“
Die Gefangenen der ersten RAF-Generation wurden über Jahre in Isolationshaft gehalten. „Radio, Bücher, Zeitschriften, und Anwaltsbesuche waren bei so lange andauernder Einzelhaft nur spärlicher Ersatz für zwischenmenschliche Kontakte, wie sie in jeder Anstalt sonst möglich sind.“ Wie kontraproduktiv das war, dass damit in Teilen der Gesellschaft genau das Gegenteil dessen erreicht wurde, was gewünscht war – nämlich eine Zerschlagung der RAF -, das wurde damals nicht thematisiert.
„Erst im Gefängnis entwickelte die Gruppe eine politische Präsenz, die sie vorher nie hatte. Die überdimensionalen Sicherheitsvorkehrungen verliehen den Gefangenen den Rahmen politischer Bedeutung, den sie mit ihren Schriften und Aktionen nicht andeutungsweise erreicht hatten. Zwischen 1970 und 1972 hatte die Polizei nach etwa 40 Personen gefahndet. Jetzt, Ende 1974, wurden 300 gesucht. Die sogenannte ‚Sympathisantenszene‘ schätzten die Experten des Bundeskriminalamt auf über 10000 Personen.“
Zur befremdlich anmutenden Seite dieser aufschlussreichen Lektüre zählen die Gedankenwelt und die Philosophie der RAF-Protagonisten. Die Motivation von Terroristen ist selten bis nie nachvollziehbar, und Aust versucht es gar nicht erst. Er schildert die familiären Hintergründe der wichtigsten Akteure, deren Bedeutung für die Gruppe und deren Weg in den Untergrund.
„Auch Ulrike lief jetzt mit einer Pistole in der Handtasche herum. Eines Tages ließ sie sich darin unterweisen, wie man Autos knackt. Ungeschickt, wie sie in technischen Dingen war, brach sie dabei das Lenkrad des Wagens ab und brachte es als Trophäe mit nach Hause. (…) So mutig sie in ihrer politisch-publizistischen Arbeit nach außen hin immer erschienen war, so sehr neigte sie im privaten, in der persönlichen Auseinandersetzung zum Nachgeben, zur Unterwerfung, zur Selbsterniedrigung. Ihr Einfluß innerhalb der Gruppe war gering, sehr viel geringer jedenfalls als das Schlagwort ‚Baader-Meinhof-Gruppe‘ nach außen hin signalisierte.“
Welche Motivation die Terroristen antrieb – siehe die eingangs erwähnten Aspekte -, mit welcher Kompromisslosigkeit sie dachten und agierten und in welcher Vehemenz sie gegen Zweifel und Zweifler vorgingen, all das lässt Aust sie selbst erzählen, mit Hilfe von Zitaten aus Verlautbarungen sowie aus Kassibern und anderem (heimlichen) Schriftverkehr. Dass die Protagonisten dabei schrieben wie sie sprachen und dachten, macht den Zugang in deren Gedankenwelt möglich – und eben: befremdlich.
„Dann – also wenn du nicht weiter mithungerst – sagste besser, ehrlicher (wenn Du noch weißt, was das ist: Ehre): ‚Wie gesagt: ich lebe. Nieder mit der RAF. Sieg dem Schweinesystem‘ –
Entweder Schwein oder Mensch
Entweder Überleben um jeden Preis
oder Kampf bis zum Tod
Entweder Problem oder Lösung
Dazwischen gibt es nichts.“
Knapp zwei Monate habe ich an dieses Buch hingelesen. Es ist in weiten Strecken kein fesselndes Buch und keines, dass zum Lesen einlädt, geschweige denn, Spass macht. Vor allem bei den Schilderungen des Prozesses gegen Baader, Ensslin u.a., wird die Lektüre zäh. Schilderungen, wie Otto Schily und Hans-Christian Ströbele als Anwälte agierten belebt solche Szenen, in dem Wissen, welche Laufbahnen beide später eingeschlagen haben.
Alles in allem würde ich das Buch empfehlen, wenn man nochmal einen Blick zurück werfen möchte, wenn man selbst den Deutschen Herbst erlebt hat und sich mitunter über heutiges Politik-Gebahren wundert. Über damaliges wundert man sich noch mehr! Das Gegenüberstellung der beiden Jahrzehnte, des Gestern und des Heute, ist es, was das Buch für mich, trotz mancher Längen, zu einem lesenswerten gemacht hat.