Beim Lesen dieses Buchs wusste ich nichts über die geschichtlichen Hintergründe. Über den Gwangju-Aufstand habe ich erst hinterher gelesen. „Menschenwerk“ basiert also auf einer realen Begebenheit, wobei die einzelnen Schicksale wohl exemplarisch sind. Im Nachwort schreibt Han Kang, wie sie indirekt in Berührung kam mit realen Orten und Personen ihrer Erzählungen.
Am 18. Mai 1980 wurde in der Stadt Gwangju eine studentische Demonstration gegen die Militärdiktatur gewaltsam niedergeschlagen. Zehn Tage dauerte die Niederschlagung des Aufstands. Dong-Ho ist noch ein Junge, als er sich auf der Suche nach seinem besten Freund der Bewegung anschließt. In der Turnhalle registriert er Leichen, während zwei junge Frauen diese oberflächlich waschen und zur Identifizierung herrichten.
„Seon-Ju und Eun-Suk legen die Toten auf ein Brett aus Sperrholz oder Kunststoff, das sie zuvor mit Plastikfolie bedeckt haben. Dann waschen sie ihnen mit einem nassen Lappen Gesicht und Hals, kämmen so gut es geht die verklebten Haare und schlagen die Körper in Plastikfolie ein, damit sich der Verwesungsgeruch nicht im ganzen Raum ausbreitet. Unterdessen trägst du das ungefähre Alter der jeweiligen Leiche, ihr Geschlecht und eine Beschreibung der Kleidung und der Schuhe in ein Heft ein. Die Nummerierung erfolgt fortlaufend. Die jeweilige Nummer schreibst du auf einen kleinen Zettel, befestigst ihn mit einer Sicherheitsnadel auf der Brust des Toten und breitest ein Laken über ihn. Daraufhin schiebst du ihn mithilfe der beiden Mädchen an die Wand.“
Es sind so viele Tote. Seinen Freund findet Dong-Ho nicht.
Das nächste Kapitel ist aus der Sicht des Freundes geschrieben, Jeong-Dae. Er ist tot. Es ist seine Seele, die erzählt, die bei seinem toten Körper verweilt und der Verwesung beiwohnt.
„Stillschweigend wohnte ich der Umformung meines Gesichts bei. Die Fäulnis machte sich von mehreren Stellen aus breit und zersetzte meine Züge bis zur endgültigen Unkenntlichkeit. Im Schutze der dunklen Nacht suchten die anderen Seelen, die im Laufe der Zeit immer zahlreicher geworden waren, Kontakt zu mir. Wir begegneten uns ohne Augen, ohne Hände, ohne Zunge. Wir erkannten uns zwar nicht, aber wir konnten immerhin einschätzen, wie lange wir schon hier zusammen waren. Wenn sich mir ein Schemen näherte, dann wusste ich intuitiv, ob er schon von Anfang an da gewesen oder ein Neuankömmling war. Manche schienen beträchtliches Leid erfahren zu haben, aber ich wusste nicht, welches. Waren es die Seelen derjenigen Körper, die unter den Nägeln dunkelviolette Einblutungen hatten, derjenigen, deren Kleider durchnässt waren? Jedes Mal, wenn mich eine von ihnen berührte, spürte ich furchtbaren Schmerz.“
Han Kang schreibt brutal. Sie verschont den Leser nicht, schildert Gewalt und Folter, ohne dies aber plakativ in den Vordergrund zu stellen. Es sind beiläufige Erwähnungen, die das Grauen veranschaulichen – und die es umso schlimmer machen, weil sie Teil geworden sind der Erzählenden.
In weiteren Kapiteln wird die Sichtweise auf die Geschehnisse von den beiden Mädchen geschildert, zeitversetzt einige Jahre später. Man erfährt, was aus ihnen wurde, wie sie immer noch leiden. Wie sie die Personen damals wahrgenommen haben – Dong-Ho etwa aus dem ersten Kapitel. Auch Dong-Hos Mutter kommt in einem Kapitel zu Wort. So vernetzt Han Kang ihre Charaktere – und erzählt jedes Schicksal in einem anderen Personalpronomen. Nur die Darstellung der Seele und die der Mutter sind in der Ich-Form dargestellt. Die Personen schauen dadurch scheinbar von außen auf sich, als lebten sie nicht mehr in ihrem Körper.
„Menschenwerk“ ist ähnlich unschön zu lesen wie „Die Vegetarierin“ und doch treibt das Buch einen beim Lesen voran. Es übt einen Sog aus, wie auch schon bei der Vegetarierin. Das fasziniert mich sehr an der Art Han Kangs zu schreiben. „Menschenwerk“ lässt mich weniger ratlos zurück – es gibt keine Fragen angesichts der Gewalt, und doch so viele.
„Jetzt möchte ich Ihnen aber ein paar Fragen stellen. Ist der Mensch von Natur aus grausam? Ist das, was wir durchgemacht haben, eine ganz normale Erfahrung? Leben wir nur in der Illusion, Würde zu besitzen, obwohl wir uns von einem Moment auf den nächsten in Abschaum verwandeln können, in ein lästiges Insekt, in eine wilde Kreatur, in eine formlose Masse aus Geschwüren und Eiter? Ist es die Bestimmung des Menschen, erniedrigt, verletzt, getötet zu werden, wie es die Geschichte immer belegt?“