Eine Frage der Chemie

Bonnie Garmus

Seiten: 457
Verlag: Piper
Erscheinungsjahr: 2022
ISBN-Nummer: 978-3-492-07109-3

Es ist schonmal vielversprechend, wenn einem ein Buch von gleich mehreren Personen empfohlen wird. Obwohl ich trotzdem zunächst skeptisch war, habe ich es in drei Tagen verschlungen.

Dass ich ein Buch kaum noch weglegen kann und nachts bis zwei Uhr lese, um es fertig zu bekommen, das ist mir schon lange nicht mehr passiert. Dabei handelt es sich bei „Eine Frage der Chemie“ nicht einmal um einen Krimi, es hat überhaupt keine speziellen Spannungsbogen. Es geht schlicht um die Geschichte einer jungen Frau in den 1960er Jahren. Einer Zeit, in der Gleichberechtigung noch ein Fremdwort war. Und die trotzdem – gegen alle Widerstände – ihren Weg geht. Zum Vorbild wird. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Welt verändert, ein klitzekleines Stück.

Elisabeth Zott ist Chemikerin. Sie arbeitet in dieser Funktion als einzige Frau am Hastings Institut – und nicht allen gefällt das. Sie weigert sich nicht nur, Kaffee zu kochen und Befehle zu befolgen. Sie widmet sich äußerst erfolgreich und unbeirrt einer bahnbrechenden Forschung. Dabei ist sie „nicht intelligent genug“, wie sie sich immer wieder von ihrem Vorgesetzten anhören muss.

“Elisabeth Zott war ebenfalls nachtragend. Doch sie war das hauptsächlich in Bezug auf eine patriarchalische Gesellschaft, die auf der Idee fußte, Frauen seien weniger. Weniger fähig. Weniger intelligent. Weniger schöpferisch. Eine Gesellschaft, die es für richtig hielt, dass Männer arbeiten gingen und wichtige Dinge taten – Planeten entdecken, Produkte entwickeln, Gesetze verfassen – während Frauen zu Hause blieben und Kinder großzogen. Sie wollte keine Kinder – das wusste sie -, aber sie wusste auch, dass viele andere Frauen Kinder haben und berufstätig sein wollten. Und was war daran falsch? Nichts. Es war genau das, was Männer ganz selbstverständlich bekamen.“

Am Institut lernt sie den begnadeten Chemiker Calvin Evans kennen. Die beiden krachen ineinander, tatsächlich und im übertragenen Sinn. Eine außergewöhnliche Liebe, auf Respekt basierend, gleichberechtigt. Von Außenstehenden mit Neid und Missgunst beäugt. Gemeinsam mit Hund halbsieben sind sie eine kleine Familie. Bis Calvin stirbt. Und Elizabeth schwanger zurückbleibt.

Unehelich schwanger sein – in der damaligen Zeit ein absoluter Skandal. Sie wird entlassen.

Jahre später wird sie eine eigene TV-Sendung haben, durch einen Zufall. Sie beschwert sich beim Vater einer Mitschülerin ihrer Tochter, weil dessen Tochter ihrer eigenen stets die Pausenmahlzeit wegisst. Der Vater ist TV-Produzent – und erkennt in Elizabeth die außergewöhnliche Person, die sie ist. Er überredet sie zu einer Kochsendung, „Essen um sechs“, doch für Elizabeth ist es eine Lehrsendung über Chemie.

“`Heute wird es spannend´, sagte sie. `Wir werden die drei unterschiedlichen chemischen Bindungen studieren: die ionische Bindung, die kovalente Bindung und die Wasserstoffbrückenbindung. Warum beschäftigen wir uns mit chemischen Bindungen? Weil wir dadurch die eigentliche Grundlage des Lebens begreifen. Außerdem gehen unsere Kuchen schön auf.´ In Wohnzimmern überall in Südkalifornien griffen Frauen zu Papier und Stift.“

Die Sendung ist außerordentlich erfolgreich und bringt den Produzenten regelmäßig an den Rand der Verzweiflung. Als ein Journalist einen Artikel über Elizabeth schreiben soll, fragt er eine Frau im Publikum, was ihr an der Sendung so gefalle? „Dass ich ernst genommen werde“, lautet die Antwort. „Nicht die Rezepte?“ Sie sah ihn fassungslos an. „Manchmal denke ich“, sagte sie langsam, „wenn ein Mann einen Tag als Frau in Amerika verbringen müsste würde er gerade mal bis Mittag überleben.“

“Eine Frage der Chemie“ vermittelt einen tiefen Eindruck in die Zeit, als Frauen viele Wege noch versperrt, die Rollenbilder klar definiert waren. Nicht nur auf das Geschlecht bezogen, auch auf Nationalität, Hautfarbe, Religion. „Ich bin Atheistin“, sagt Elizabeth an einer Stelle, „ich bin Humanistin“.

Ich mag an diesem Buch, dass – obwohl sie wie eine Vorkämpferin des Feminismus wirkt – sie für die Gleichberechtigung von Menschen kämpft. Ohne dies wie eine Fahne vor sich herzutragen, denn eigentlich ist sie nur bemüht, ihr eigenes Leben auf die Reihe zu kriegen. Und beeinflusst damit das Leben so vieler anderer.

„`Deshalb wollte ich `Essen um sechs´ nutzen, um Chemie zu unterrichten. Denn wenn Frauen Chemie verstehen, begreifen sie zunehmend, wie alles zusammenwirkt.´ Roth blickte verwirrt. `Ich spreche von Atomen und Molekülen, Roth.´, erklärte sie. `Den wahren Regeln, die die physikalische Welt bestimmen. Wenn Frauen diese grundlegenden Konzepte verstehen, können sie allmählich die falschen Grenzen erkennen, die ihnen auferlegt worden sind.´ `Sie meinen, von den Männern.´ `Ich meine, durch künstliche kulturelle und religiöse Normen, die Männer in die extrem unnatürliche Rolle einer allein auf dem Geschlecht basierenden Führungsposition gedrängt haben. Schon ein simples Verständnis der Chemie macht die Gefahr einer solch einseitigen Betrachtungsweise deutlich.“

Meinem Eindruck nach ist Elizabeth autistisch veranlagt. Nie lächelt sie, sie denkt und handelt absolut rational. So erzieht sie auch ihr Kind, das ebenso intelligent ist wie die Eltern – und der Hund der Familie.

halbsieben ist mein Star des Buchs, ich liebe ihn, allein schon wegen des Namens. Elizabeth bringt ihm Worte bei. Und dass er sie lernt und versteht erfahren wir, weil manche Absätze aus der Sicht von halbsieben erzählt sind – großartig!! Meine größte Sorge beim Lesen war, dass ihm etwas zustoßen könnte.

Ich habe dieses Buch inhaliert – auch, weil ich glücklicherweise Zeit dafür hatte. Aber es ist für mich kein Fünf-Sterne-Buch, und – trotz einigen Zögerns – nicht einmal ein viereinhalb-Sterne-Buch. Mich stören einige Unlogiken – etwa, wie Elizabeth die Einzigartigkeit der Gefühle zwischen Calvin und ihr beschreibt („Man muss keine fortgeschrittenen Chemiekenntnisse haben, um die Seltenheit unserer Situation zu verstehen“), wo sie doch keinen Vergleich zu haben scheint und Liebe scheinbar einzig aus Beobachtungen kennt … Und ist nicht jede Liebe auf ihre Art einzigartig?

Am Ende führt die Autorin noch viele Fäden zusammen, was aber mir persönlich zu konstruiert ist und nicht notwendig gewesen wäre, sondern einzig dem Wohlgefühl des Lesenden dienen soll. Das funktioniert. Überhaupt mutet die Autorin den Lesenden selten ein richtig ungutes Gefühl zu, selbst da, wo es aus meiner Sicht durchaus wehtun sollte. Auch sind die Figuren an manchen Stellen überzeichnet: Sie sind entweder auf der Seite der Guten, oder der Bösen. Für Elizabeth oder gegen sie. Nur eine, die Personalsekretärin im Hastings, wechselt die Seite, quasi durch die Erkenntnis einer gemeinsamen, schlimmen Erfahrung „bekehrt“. Die Guten schließt man allesamt ins Herz, die Bösen verabscheut man. Auch hier hätte mehr Differenziertheit nicht geschadet, für meinen Geschmack.

Doch die Figur der Elizabeth Zott ist einzigartig und wird in Erinnerung bleiben. Und die Art, wie sie in ihrer zum Labor umgebauten Küche Kaffee kocht – ich würde ihn zu gerne probieren!

“Unter Mrs. Sloanes wachsamen Augen tappte Elizabeth zu der Edelstahlarbeitsplatte, wo sie destilliertes Wasser aus einem Kanister in einen Glaskolben goss, den Kolben mit einem Stopfen verschloss, aus dem sich oben ein Schlauch kringelte. Als Nächstes hängte sie den Kolben an einem der zwei Metallständer zwischen zwei Bunsenbrennern, um dann mit einem seltsamen Metallteil Funken zu entzünden, als würde Feuerstein auf Stahl schlagen. Eine Flamme erschien, das Wasser heizte sich auf. Elizabeth griff in ein Regal und nahm eine Dose mit der Aufschrift C8H10N4O2 herunter, schüttelte etwas in einen Mörser, zermahlte es mit einem Stößel, kippte die so entstandene schwarzsandige Substanz in eine eigenartige kleine Waagschale, gab den Inhalt der Schale dann auf ein fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter großes Stück Mulltuch und band es zu einem kleinen Bündel zusammen. Sie stopfte das Bündel in ein größeres Becherglas, das sie an dem zweiten Metallständer befestigte, und schob das Ende des Schlauchs, das aus dem Glaskolben kam, bis auf den Boden des großen Becherglases. Mrs. Sloane, die Kinnlade praktisch auf dem Fußboden, sah zu, wie das Wasser im Kolben anfing zu brodeln, durch den Schlauch gepresst wurde und in das Becherglas lief. Nach kurzer Zeit war der Kolben nahezu leer, und Elizabeth stellte den Bunsenbrenner aus. Sie rührte den Inhalt des Becherglases mit einem Glasstab um. Dann machte die braune Flüssigkeit etwas Unerhörtes: Sie stieg auf wie ein Poltergeist und strömte zurück in den Kolben. `Milch und Zucker?´, fragte Elizabeth, zog den Stopfen aus dem Kolben und schenkte Kaffee ein. `Meine Güte´, sagte Mrs. Sloane, als Elizabeth ihr eine Tasse hinstellte. `Noch nie was von Instantkaffee gehört?´ Doch sobald sie den ersten Schluck gekostet hatte, sagte sie nichts mehr. So einen Kaffee hatte sie noch nie getrunken. Er war himmlisch.“

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