Ein Gentleman in Moskau

Amor Towles

Seiten: 558
Verlag: Ullstein
Erscheinungsjahr: 2018
ISBN-Nummer: 978-3-548-29072-0

Erneut ein Lesekreis-Vorschlag - der am Ende zum von uns allen bestbewertetsten Buch bislang wurde. Ich habe mir zunächst schwer getan, reinzukommen - am Ende hat mich die Atmosphäre aber doch gefangen.

Moskau, 1922: Graf Alexander Rostov wird zu lebenslangem Hausarrest verurteilt. Wegen eines Gedichts, das er verfasst hat; „… für das Verbrechen, als Aristokrat geboren zu sein…“, sagt er selbst. Mit dem Urteil hat er Glück: Seines guten Rufs wegen wird er nicht umgehend erschossen. Und: Den Hausarrest kann er im noblen „Hotel Metropol“ verbringen, dem besten der Stadt, in dem er schon seit geraumer Zeit lebt.

Im Grunde handelt das Buch von nichts anderem als dieser Zeit im Hotel. Rostov muss zwar von seiner Suite in ein kleines Dachzimmer umsiedeln und kann deswegen nur einen Teil seiner Möbel behalten. Doch er behält seine Gewohnheiten bei: geht einmal die Woche zum hoteleigenen Friseur, speist in einem der guten Restaurants des Hotels und liest jeden Morgen in der Lobby seine Zeitung. Das Personal kennt ihn, mit dem Restaurantmanager, dem Koch und der Näherin, dem Poitiers und dem Bar-Chef ist er befreundet.

Und er lernt Nina kennen, ein neunjähriges Mädchen, das mit seinem Vater ebenfalls im Hotel lebt.

“Der Graf lebte seit viereinhalb Jahren im Metropol und betrachtete sich gewissermaßen als Experte des Hotels. Er kannte die Angestellten namentlich, die Dienstleistungen durch Erfahrung und den Einrichtungsstil der Suiten auswendig. Als Nina ihn aber unter ihre Fittiche nahm, wurde ihm bewusst, dass er blutiger Anfänger war. (…) Nina (…) war in die Untergeschosse gegangen, in die Hinterzimmer. Sie war überall und nirgends gewesen. Seit Nina im Hotel lebte, waren die Wände nicht näher an sie herangerückt, sie hatten sich nach außen verschoben, sie hatten Räume und Geheimnisse offenbart.“

Amor Towles macht riesige Zeitsprünge. Von einem Kapitel zum anderen sind mitunter acht Jahre vergangen, und so begleitet man den Grafen beim Älterwerden und Nina beim Heranwachsen. Die verlässt eines Tages das Hotel, stillt ihren Wissensdurst und gibt sich der sozialistischen Idee hin – bis sie eines Tages mit ihrer kleinen Tochter zurückkommt, die sie dem Grafen anvertraut. Er wird quasi zu ihrem Vater, ohne es zu sein. Und als diese wiederum im Alter ist, auf eigenen Beinen zu stehen – jenseits des Hotels und vielleicht sogar jenseits der sowjetischen Grenze – wächst Alexander Rostov über sich hinaus.

Obwohl fast das komplette mehr als 550 Seiten umfassende Buch in einem Gebäude spielt, wird es nicht langweilig. Was zum einen an der wundervollen Atmosphäre dieses Hotels liegt, und am Charakter des Grafen. Mit stoischer Ruhe vollzieht er seinen Alltag, niemals klagt er, wird depressiv oder hofft auf ein besseres Ende. Er macht schlicht das Beste aus den Umständen. Etwa, in dem er aus Ärger über den immer schlechter werdenden Service des Hotelrestaurants selbst als Kellner dort anheuert. Und damit eine (weitere) neue Aufgabe hat.

Zum anderen ist es die Sprache des Autors, die das Buch so fesselnd macht, die Kunst, vermeintliche Kleinigkeiten wunderschön zu beschreiben – man fühlt, riecht, lebt mit.

“Er warf sich den Morgenmantel über und schlüpfte in seiner Hausschuhe. Er nahm eine Dose von der Kommode, löffelte ein paar Löffel Bohnen in die Mühle und begann, an der Kurbel zu kurbeln.

Sein Zimmer lag noch unter dem zarten Schleier des Schlafs, als er so vor sich hin drehte. Ungehindert überzog der Schlaftrunkenheit Gesehenes und Gefühltes, Formen und Fomulierungen, das, was gesagt war, und das, was getan werden musste, mit ihrem Schatten und verwandelte alles in Schemen. Aber als der Graf die kleine Lade der Kaffeemühle aufzog, wurde die Welt mit allem, was in ihr war, verwandelt von dem, was den Neid der Alchemisten weckt – dem Aroma frisch gemahlenen Kaffees.

Das war der Moment, in dem Dunkelheit von Licht, Wasser von Land und der Himmel von der Erde geschieden wurde. Die Bäume trugen Früchte, und die Wälder bewegten sich bei den Bewegungen der Vögel und Tiere und allem, was kriecht. Während in unmittelbarer Nähe, draußen auf der Fensterbank, eine geduldige Taube scharrte.“

„Ein Gentleman in Moskau“ stand 57 Wochen auf der Bestsellerliste der „New York Times“ und wurde 2024 als Mini-Serie verfilmt. Meine Mitleserinnen im Lesekreis empfehlen, unbedingt auch das erste Buch von Amor Towles zu lesen: „Eine Frage der Höflichkeit“, das in den späten dreißiger Jahren in New York spielt.

Werde ich. Irgendwann. Denn mir ist nach dieser ruhigen Erwählweise nun doch nach etwas mehr Action und Spannung zumute. Nichtsdestotrotz gibt es für „Ein Gentleman in Moskau“ eine klare Lese-Empfehlung!

“Seit Menschen sich Geschichten erzählen, erklärte er, hat der Tod sich die Ahnungslosen geholt. Es gibt Geschichten, da kommt er in eine Stadt und nimmt sich ein Zimmer in einem Wirtshaus, oder er treibt sich in den Gassen herum oder trödelt über den Marktplatz, immer heimlich. Und in dem Moment, da der Held sich eine Atempause von seinem Alltagsleben gönnt, stattet der Tod ihm seinen Besuch ab.

Alles schön und gut, gab der Graf zu. Aber was selten erwähnt wird, ist die Tatsache, dass das Leben ebenso hinterhältig wie der Tod ist. Auch das Leben kann im Kapuzenmantel umhergehen. Es kann genauso in die Stadt kommen, sich in einer Gasse herumtreiben oder im Hinterzimmer eines Wirtshauses lauern. (…) Was für eine Welt, seufzte der Graf endlich, dann schlief er in seinem Lehnstuhl ein.“

Ausgewählte Bücher:

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