Doris will nicht mehr im Büro arbeiten. Sie ist 18 Jahre alt, und sie will „ein Glanz“ werden. Obwohl sie ihrer Liebe Hubert nachtrauert, hat sie doch stets die Augen offen für die Herren der reichen Gesellschaft. Sie mag es, hofiert zu werden und lässt sich durch Geschenke wie schicke Kleidung oder eine Uhr ausstatten für die nächste Eroberung. Ihrer Reize ist sie sich bewusst, ohne sich etwas darauf einzubilden.
“Und da fragt er mich: wie siehst du aus? Das war mir ganz komisch, ich wollte mich selber sehen von außen und nicht wie ein Mann sonst mich beschreibt zu mir, was ja doch immer nur halb stimmt. Und denke mir: Doris ist jetzt ein enormer Mann mit einer Klugheit und sieht auf Doris und sagt so wie ein medizinischer Arzt: `Also liebes Kind, Sie haben eine sehr schöne Figur, aber ein bißchen spillrig, das ist gerade modern, und haben Augen von einem braunen Schwarz so wie die ganz alten Seidenpompons an meiner Mutter ihr Pompadour. Und bin wohl auf blutarme Art blaß am Tage und an meiner Stirm blaue Adern und abends rote Backen und auch sonst, wenn ich aufgeregt bin. Und mein Haar ist schwarz wie ein Büffel also nicht ganz. Aber doch. Und kraus durch Dauerwellen, aber die lassen schon wieder etwas nach. Und mein Mund ist von Natur ganz blaß und wenig. Und geschminkt sinnlich. Ich habe aber sehr lange Wimpern. Und eine ganz glatte Haut ohne Sommersprossen und Falten und Staub. Und das übrige ist wohl sehr schön.´“
Dem Reiz der Verlockung des Films folgend, aber gleichzeitig auf der Flucht, zieht sie nach Berlin. Sie hat an der Theatergarderobe einen Pelz gestohlen und ist nun zwar gewärmt, aber ohne Papiere in der Hauptstadt. Es ist 1931, eine düstere Atmosphäre lässt sich schon erahnen. Ihre Erlebnisse schreibt sie in ein Buch.
“Und ich denke, daß es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich denke nicht an Tagebuch – das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein.“
Und so liest man diesen „Film“, mit seiner außergewöhnlichen Sprache und dem besonderen Stil. Wir begleiten Doris in Berlin, wie sie sich den verschiedenen Männern anpasst – „wo ich doch mein Lügen künstlerisch entwickelt habe“. Manchmal, selten, gelingt es ihr, und ein „Industrieller“ nimmt sie zur Geliebten, beschenkt sie und sie lebt wie im Rausch „und bin so vornehm, ich könnte Sie zu mir sagen“. Doch weder ihr Versuch, am Theater Fuß zu fassen – sie übertreibt es mir ihren Lügen und muss einmal mehr fliehen – noch die Suche nach dem Glück sind erfolgreich. Obdach- und ziellos lässt sie sich durch die Stadt treiben.
“Immer ging ich weiter, die Huren stehen an den Ecken und machen ihren Sport, und in mir war eine Maschinenart, die genau ihr Gehen und Stehenbleiben machte. Und dann sprach mich einer an, das war so ein Besserer, ich sagte: `Ich bin nicht `mein Kind´ für Sie, ich bin eine Dame.´ Und wie unterhielten uns in einem Restaurant, und sollte ich Wein trinken und hätte so gern was gegessen fürs selbe Geld. Aber so sind sie – sie bezahlen ganz gern große Summen für zu trinken und finden sich ausgenützt, wenn sie eine kleine Summe für zu essen bezahlen sollen, weil Essen ja was Notwendiges ist, aber Trinken was Überflüssiges und somit vornehmer.“
„Das kunstseidene Mädchen“ war nach Erscheinen 1932 ein Erfolg, wurde aber im Nationalsozialismus verboten. Die Autorin Irmgard Keun ging vier Jahre ins Exil, sie stand wie ihre Werke auf der schwarzen Liste. Ihre Lebensgeschichte ist mindestens genauso spannend wie die ihrer Protagonistin Doris. Die Art, wie sie die Lesenden beinahe intim teilhaben lässt, macht das Buch für mich zu etwas Besonderem und ich habe vor, auch „Nach Mitternacht“ zu lesen, welches dann direkt in der NS-Zeit verortet ist.
“Das kunstseidene Mädchen“ ist zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig, aber unbedingt lesenswert – und nimmt gegen Ende nochmal richtig an Fahrt auf. Dranbleiben lohnt.