Jeff Tomlinson gebührt mein außerordentlicher Respekt. Wie er mit seinen Schicksalen umgeht, ist beispielgebend und viele Menschen können durch seine Geschichte – und Erfolge – Mut schöpfen. Das möchte ich ausdrücklich betonen. Dass mir dieses Buch nicht gefällt, hat also nichts damit zu tun, dass ich nicht beeindruckt bin von der Leistung des Autors.
„`Mir fehlen gerade die Worte´, sagt (der Eishockeyspieler Flurin) Randegger. `Jeff war immer transparent, sowohl in Rappersil-Jona wie auch in Kloten´, erzählt er. `Er sagte uns, dass er nicht mehr gut sehe und wir dies für uns behalten sollen.´ Damit sei für die Spieler alles gesagt und erledigt gewesen. `Was ich stets dachte, war aber dies: Jeffs Sehvermögen liegt irgendwo zwischen 50 und 60 Prozent.´“
Tatsächlich sieht der deutsch-kanadische Eishockeyspieler und -Trainer Jeff Tomlinson nur noch fünf Prozent, nachdem er zunächst auf dem einen, ein Jahr später auch auf dem anderen Auge einen Sehnervinfarkt erleidet. Die Ursache dafür bleibt unklar, könnte aber mit einer Nierenerkrankung zusammenhängen; vor einigen Jahren hatte er deshalb eine Nierentransplantation.
„Und dass sich Jeff vor allem zu Beginn wie blind fühlte und darum auch selbst so beschrieb, ist völlig legitim. So positiv er auch mit seiner neuen Behinderung umging, so sehr wurde es auch zur Normalität, dass kleinste Hindernisse sich in große Herausforderungen verwandelten. (…) Umrisse kann Jeff erkennen, räumliches Sehen ist trotz Kompensation und Übung mühsam. (…) Treppensteigen? Jedes Mal eine Herausforderung, auch wenn Jeff es mittlerweile aussehen lassen kann, als erkenne er die Stufen problemlos. (…) Unzählige Beispiele aus Jeffs Alltag zeigen seine Herausforderungen: Wenn er beim Öffnen einer Türe den Griff nicht findet und sich die Hand einklemmt. Wenn er in Bahnhöfen dankbar über die großen Bodenmarkierungen ist. Wenn er zwar richtig vermutet, dass jemand ein Hi-Five anbietet, die ausgestreckte Hand aber ignoriert – sein Gesichtsfeld ist vor allem in den unteren Bereichen stark eingeschränkt oder nicht mehr vorhanden.“
So schildern es Wegbegleiter, mit denen Co-Autor Kristian Kapp gesprochen hat: Ärzte, Spieler, Jeffs Frau … Aber vor allem erzählt Jeff. Leider tut er das sehr wenig im Detail. Was genau sieht er denn nun, wenn die Spieler auf dem Eis sind? Neben seiner Trainerbank wurde ein Bildschirm aufgestellt, und sein Trainer-Assistent saß auf der Tribüne und gab ihm über Funk wichtige Geschehnisse auf dem Eis durch. Doch wie genau lief das ab? Jeff schildert zwar, wie er sich bemühte, sich im Alltag zu behelfen. Doch solche Absätze wie dieser sind selten.
“Mit gewissen Fragen fiel es mir immer leichter, ungezwungene Gespräche zu beginnen. Schon bald erkannte ich auch die Stimmen der Spieler. Oder ich konnte sie anhand ihrer Bewegungen oder ihrer Frisur identifizieren. Und irgendwann kennst du auch ihre Routinen an Trainings- und Spieltagen: Wer läuft auf welche Art um welche Zeit in die Garderobe? Spieler haben so viele Gewohnheiten, von denen sie kaum abweichen. Es gibt darum Unmengen an Möglichkeiten, sie kennenzulernen.“
Dazu hätte ich mir viel mehr konkrete Beispiele und Abläufe gewünscht …
Ich war über einen SZ-Artikel auf dieses Buch aufmerksam geworden – und habe es mir sofort bestellt. Ich hatte gehofft, daraus zwei Dinge zu erfahren: Was genau macht ein Eishockey-Trainer? Wie führt er eine Mannschaft in die nächsthöhere Liga – und wie schafft er das mit fast völliger Erblindung? Wenn man ehrlich ist, werden beide Fragen nicht wirklich zufriedenstellend beantwortet. So gesehen hätte es mir vollkommen ausgereicht, nur den Zeitungsartikel zu lesen.
Was hängen bleibt am Ende ist das Phänomen: „Blinder Trainer feiert Erfolge“. Und was für ein wahnsinnig toller, fairer, fähiger Trainer und Mensch Jeff Tomlinson anscheinend ist. Welche Fähigkeiten aber etwa der EHC Kloten nur in ihm alleine gesehen hat, um ihn – in dem Wissen seiner Erkrankung – dennoch als Trainer zu engagieren, das ist zumindest nicht bei mir hängengeblieben. Denn natürlich ging der Verein ein Risiko ein.
“Stellen Sie sich die Situation im Profisport vor. In einer der besten Ligen der Welt. Ein Assistent, der auf den Job des Cheftrainers spekuliert, will mir in so einem Moment schaden. Also gibt er mir Informationen über Spielszenen, die gar nie stattfanden. Alle wissen es, nur der Chef nicht. Wie hätte ich da vor der Mannschaft gewirkt? Wie lächerlich hätte ich mich da vor ihr gemacht? Erst wenn man sich das bildlich vorstellt, merkt man, wie delikat meine Situation war. Darum war es so wichtig, enge Beziehungen zu den Spielern und Trainerkollegen aufzubauen.“
Vielleicht ist dies das wirklich Mutmachende an diesem Buch: Nicht nur, dass eine Person so eine Stärke aufbauen und erfolgreich sein kann, ungeachtet der Handicaps. Sondern dass sie so viel Unterstützung erhält, dass es noch einen Zusammenhalt gibt in einer Zeit, in der das Fehlen von Zusammenhalt oft angeprangert wird. Ich bewundere Jeff Tomlinson für seine Fähigkeit, Menschen für sich einzunehmen und daraus die Stärke zu entwickeln weiterzumachen – und umgekehrt. Das eine bedingt das andere. Auch das kann man aus diesem Buch lernen.
„Was ich mit diesem Buch vor allem tun will: mich endlich outen! Aber auf meine Art und Weise. Ich will, dass die Leute Bescheid wissen. Ich bin es leid zu lügen und die Leute hinters Licht zu führen. Weil es mich stresst. Es ist anstrengend, ständig etwas vorzuspielen. Ich will nicht mehr der sozial unbeholfene Typ sein, der sich in Gesellschaft anderer Menschen fehl am Platz fühlt, weil er allen etwas vormachen muss. (…) Was ich auf keinen Fall will, ist Mitleid. (…) Und last but not least: Wenn ich andere Menschen mit ähnlichen Problemen inspirieren kann, dann würde mich dies glücklich machen.“


